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Interview mit Qusai Kh.

Gegenwärtige Perspektiven auf Flucht

BOMBARDIERUNGEN UND TERROR

Qusai Kh. ist Ende 20 und kommt aus Syrien. Der junge Mann kam 2015 über die so genannte Balkanroute nach Deutschland. Vor dem syrischen Bürgerkrieg schloss er ein Studium als Vermessungstechniker ab. Qusais Wohnort Zabadani wurde völlig zerstört. Die Kleinstadt wurde in Schutt und Asche gebombt.

Qusai hatte sich 2011 friedlich an den Demonstrationen für Freiheit und politische Reformen beteiligt. Er weigerte sich auch später, Gewalt auszuüben. Damit hängt das schlimme Ereignis zusammen, das er heute noch als Terror empfindet und das seine Flucht aus Syrien auslöste.

— Ich bin ein friedlicher Mensch. Ich habe mich friedlich an allem beteiligt, ohne Waffen oder Gewalt. Meine Probleme haben angefangen, als der Krieg nach ein, zwei Jahren heftiger wurde. Ich war gegen eine bewaffnete Revolution. Alle anderen Leute in unserer Stadt trugen Waffen. Meine Familie war weggezogen, eines unserer beiden Häuser war zerbombt worden. Das Regime hatte unsere Stadt sehr stark bombardiert. Es war eine Katastrophe.

Ungefähr ein Jahr lang während des Kriegs blieb ich dort wohnen. Die Situation war sehr schwierig für mich. Schließlich zog ich in die Hauptstadt, um dem Druck zu entkommen. Ich blieb bei einem Freund, wir arbeiteten zusammen in einem Laden. Dort passierte mir etwas Schlimmes. Ich wurde von einer Bande festgenommen. Ich weiß nicht, warum sie mich ausgesucht haben. In meiner Stadt hat es ein Problem gegeben, und ich war das Opfer. Ich wurde ungefähr 15 Stunden in einem Haus festgehalten, ohne zu wissen, ob ich noch länger als die nächsten zwei Minuten überleben würde. Danach habe ich mich entschieden, in den Libanon zu flüchten. Meine Stadt lag nicht weit von der Grenze. Gegen viel Geld brachte ein Mann Menschen von dort über die Grenze. Wir gingen zu Fuß durch die Berge, was wegen der Minen gefährlich ist. Der Mann machte einen Fehler. So wurden wir im Libanon von der Polizei entdeckt und festgenommen.

 

Der Mann, der euch bringen wollte, war der nicht von der Polizei?

Nein. Die Polizei hat uns Fragen gestellt. Es gibt eine schlechte Partei im Libanon, sie unterstützt unser Regime. Es war nicht die libanesische Polizei, sondern eine Geheimpolizei, die uns festgenommen hat. Sie verhörten mich schwer. Warum kommst du hierher, was willst du, was brauchst du, was hast du in deiner Stadt gemacht, hast du Gewalt gegen die Leute dort ausgeübt? Kommst du wegen deiner Religion? Einen Tag lang musste ich von einem zum anderen Gebäude und immer wieder Fragen beantworten. Danach hat ein Cousin im Libanon mich gegen 600 Euro freigekauft.

Ich bin ein Jahr lang im Libanon geblieben. Das war keine einfache Zeit. Der Umgang zwischen Einheimischen und den syrischen Flüchtlingen war schrecklich. Syrien ist ein großes Land und der Libanon ist klein. Die vielen Flüchtlinge haben dort eine schlechte Stimmung ausgelöst. Ich habe jeden Tag auf der Baustelle und in einem Blumengeschäft gearbeitet. Blumen einladen und aufladen, das ist nicht meine Arbeit. Ich habe studiert, ich habe einen Abschluss. Als sich die Grenzen innerhalb Europas öffneten, ergriff ich die Chance. […]

 

Haben Sie sich schon im Libanon entschieden, direkt nach Deutschland zu kommen, oder war erst einmal Europa das Ziel?

Deutschland war nicht mein eigentliches Ziel. Aber die Auswahl zwischen Norwegen, Schweden oder Deutschland betrachtet, schien mir Deutschland am besten. Ich hatte ein bisschen über Deutschland gehört, bevor ich herkam. Und die Reise war sehr ermüdend. Wenn du hier ankommst, musst du entscheiden, ob es nach Norwegen nicht zu weit ist. Du bist ja müde, und gerade einmal bis hierhergekommen. […] An der Grenze von Österreich und Deutschland, was mir da sehr gefallen hat, war die Mentalität Deutschlands. Ich konnte mir nicht vor­stellen, dass jemand, der bei der Bundespolizei arbeitet, mir einen Kaffee oder einen Tee geben würde. Das hat mich gleich glücklich gemacht. Ich komme ins richtige Land. Oder wo es Gerechtigkeit gibt. […] Meine Familie ist immer noch in Syrien. Ich habe einen Bruder, der behindert ist. Mein Vater hat entschieden, dass sie zuerst Geld brauchen. Das ist das Wichtigste. Ich müsste mit meiner Familie hierher kommen. Sie brauchen Begleitung, sie können nicht alleine reisen.

Illustration: Alina Grap

Sind sie in Gefahr oder sind sie dort sicher?

Der Krieg jetzt ist schon beendet, weil keine Gebäude mehr da sind. In meiner Stadt ist niemand mehr.

 

Das ist ja ein Grund wegzufahren, da darf man ja nicht böse sein. Man kann nicht jeden Monat ein neues Haus bauen.

Mit meiner Familie ist alles klar. Sie brauchen nur Geld, weil es dort keine Arbeit gibt.

Von was leben die Leute?

Das ist eine lange Geschichte. Ein bisschen von hier und da. Die Leute haben schon ihr Leben lang eine ganz schlechte Situation. Einige Orte in Syrien blieben einen Monat ohne Essen. So etwas ist passiert.

Kann man sagen, dass die Regierung schuld ist? Nicht alleine.. ?

Nein, nicht alleine. Auch die Gegner des Systems haben viele Fehler gemacht. Deswegen habe ich mich entschieden, wegzugehen. Weil ich nicht sehen konnte, wer Recht hat. Aber wer hat die Flugzeuge? Nicht die Leute der Revolution. Die Flugzeuge gehören dem Regime.

SCHUTZLOSIGKEIT UND VERANTWORTUNG

Nach seiner Flucht aus Syrien versuchte Qusai Kh. rund ein Jahr lang, sich im Nachbarland Libanon eine Lebens­perspektive aufzubauen. Doch seine Mühen waren vergeblich. Er entschied sich zur Weiterflucht nach Europa. Dafür schloss er sich einer Gruppe Flüchtender an. Unterwegs durch die Türkei und Griechenland wurden sie zu einer Schicksalsgemeinschaft, die die Hürden der Flucht gemeinsam überwand.

Die Entscheidung, aus dem Libanon nach Deutschland zu kommen, war nicht einfach. Das kostete mich viel Geld und ich hatte keines, weil meine tägliche Arbeit gerade einmal zum Überleben reichte. Ich hatte auch keinen Pass, keinen Aufenthalt. Wie konnte ich in die Türkei fliegen? So habe ich mir bei Freunden in aller Welt Geld geliehen und habe für 1.000 Euro einen Pass machen lassen. Der kostet in Syrien normalerweise 100 Euro, aber ich war ja im Libanon.

Dann habe ich einen Flug für 400 Euro gebucht. Am Flughafen schloss ich mich einer Gruppe an, die auch nach Deutschland wollte. Ein Mann sollte uns von der Türkei aus nach Griechenland bringen. Wir waren circa 40 Leute, darunter drei Familien mit Kindern. Da war eine halbe Stunde Überfahrt über das Mittelmeer nicht einfach. Der Mann hat mir vorgeschlagen, innerhalb der Türkei fünf Stunden bis zu einer Stelle zu fahren, von wo aus die Überfahrt nur eine Viertelstunde dauern sollte. Das gab uns ein bisschen Sicherheit.
Für mich es war es nicht zu schwer. Ein Abenteuer über 40 Stunden. Aber für die Familien war das nicht so einfach.

 

Was war Ihr schönstes und was Ihr schlimmstes Erlebnis auf der Flucht?

Das schönste war das Gefühl, als wir die [griechische] Insel erreichten. Da fühlte ich mich sehr gut: Ich bin jetzt okay. Ich bin jetzt in einem Land, das zu Europa gehört. Das gab Sicherheit. Das Schlimmste war die Entscheidung zur Flucht. Und dann, die Familien [während der Reise] auf der Straße liegen zu sehen. Wir hörten während der Reise, dass viele Leute starben. Wir lasen in der Zeitung, dass viele Leute aus Syrien im Meer gestorben waren. Das war auch nicht so schön. Ich habe meine Erinnerungen verlassen [im Sinne von losgelassen; d. Red.]. […] Zum Beispiel die Momente, die wir als Schüler miteinander erlebt haben. Ich habe sie verlassen. Viele Freunde sind gestorben. Die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland, das war am schlimmsten.

Also die Fahrt?
Ich war wie ein Chef in meiner Gruppe, was nicht einfach war. Ein Freund und ich, wir waren die jungen Leute. Die anderen waren größere oder kleinere Familien. Ich musste immer auf Google Maps schauen, wo wir als nächstes hingehen müssen.

Waren Sie mit der Schwimmweste im Boot? Die kostet ja auch Geld.

Schwimmwesten hatten wir alle an. Das Bootsthema brauchte viel Zeit. Wir haben uns fünf Stunden vor­bereitet. Der Mann, der uns nach Griechenland bringen sollte, holte ein kleines Boot. Wir mussten die Luft einfüllen und es eine halbe Stunde lang bis zum Strand tragen. Diese Arbeit haben nur wir Jungen gemacht, nicht die Familien. Wir mussten die vielen Kinder ­holen. Wir halfen diesen Leuten. Große Sorge hatten wir, dass die türkische Polizei uns festnehmen würde. Dann hätten wir es noch einmal versuchen müssen.

Ist die ganze Gruppe erfolgreich angekommen?

Alle. Wir waren 40 Personen in einem kleinen Boot. Die Jungen saßen außen, die Familien in der Mitte. Die ganze Reise dauerte zwei Wochen.

Wie ging die Reise weiter von Athen aus?

Über Mazedonien, Serbien, Kroatien. Ich hatte Glück, weil Kroatien die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet hatte. Vorher mussten die Leute durch Ungarn, und dort war die Situation schlecht. Alles zu Fuß, ohne Zug, das braucht viele Tage, um es zu schaffen. Ein Freund hat zwei Wochen gebraucht, um Ungarn zu durchqueren, und musste auch viel Geld ausgeben.

Wenn man viel Geld hat, ist es dann viel einfacher?

Die Reise wird dann einfacher, ja.

Auch schneller? Oder nicht immer?
Nicht immer, aber das Geld gibt mehr Sicherheiten. Das ist eine gute Frage. (lacht)