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Biografie von Alla Sidorenko

Von Kübra Akmantemiz

„Schließt euch unter keinen Umständen faschistischen Organisationen an, die gibt es überall. Hört und vertraut auf keine Versprechungen, die euch gemacht werden. Ihr sollt heiraten, Kinder und Beruf haben und in der eigenen Familie friedlich leben.“ So lautet der Rat der am 15.10.1938 in Leningrad (heute Sankt Petersburg) geborenen Zeitzeugin.

Alla Sidorenko spricht aus eigenen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Sie überlebte den menschenverachtenden Vernichtungskrieg der Deutschen gegen osteuropäische Zivilisten und sie entkam dem antisemitischen Wahnsinn, mit dem die deutschen Einheiten bei ihrem Vormarsch in die Sowjetunion Juden zusammentrieben und töteten. Sie litt Hunger, Angst und Kälte schon in ihrer frühen Kindheit.

Der Krieg erreichte die Tochter der Rabbinerfamilie Rafailow als Alla noch nicht ganz drei Jahre alt war.

Die deutsche Wehrmacht belagerte Leningrad von  September 1941 an. Heute ist bekannt, dass die Blockade der Stadt bis  Januar 1944 dauerte. Das Ziel der Wehrmacht war es, die gesamte Bevölkerung der Stadt zu vernichten. Alla erlebte 1941/1942 den härtesten Winter in der belagerten Stadt, bei Temperaturen bis zu minus 38 Grad. Allas Mutter hat ihr viel über die Blockade erzählt.  „Zuerst brannten die „Badajew“-Lebensmitteldepots“, berichtet Alla. Als der Hunger ausbrach, sammelten die Menschen dort Erdklumpen mit geschmolzenem Zucker und Mehl und lutschten sie. In Leningrad brach die Infrastruktur zusammen: Strom und Heizung gingen aus, die Kanalisation funktionierte nicht mehr. Es gab keine Medikamente. Jeder versuchte, sich selbst zu helfen. Die Menschen aßen die Tiere der Stadt: Vögel, Hunde, Mäuse,….

„Mein Großvater war Schuster.
Er hatte Lederreste. Davon hat meine
Großmutter für uns Suppe gekocht“

Im Sommer aßen sie Gras, jedes Unkraut. Es kam zu Fällen von Kannibalismus. Wer in einer Waffenfabrik arbeitete, bekam zusätzliche Lebensmittel.

Allas Vater hatte sich freiwillig an die Front gemeldet. So war er nicht mit Alla und ihrer Mutter, ihrer Tante und deren Baby, sowie ihren Großeltern in der Blockade.

Für Alla und ihre Familie waren die Hungersnot und die ständigen Bombardierungen  kaum aushaltbar. Diese Atmosphäre des Schreckens ist Allas frühestes Kindheitserlebnis: „Ich erinnere mich an die totale Dunkelheit. Es war kalt. Wir saßen eng aneinander gedrückt im Bett. Wir hatten Angst vor den Bombardierungen und ich habe die ganze Zeit geweint.“ Damals war sie aufgrund der Lebensumstände und der schlechten Ernährung schwer krank; sie litt unter ständigen Schmerzen und einem starken Hautjucken, das sie dazu brachte, die Haut an den Händen wund zu kratzen. Bis heute hat sie die Narben und leidet unter Depressionen – den psychischen Folgen ihrer Kriegserlebnisse.

Dass sie davon erzählen kann, ist nicht selbstverständlich: Schätzungsweise sind mehr als eine Million Menschen durch die Blockade Leningrads ums Leben gekommen.

Einer von ihnen ist Allas Großvater, der in Leningrad zurückblieb, um die Stadt zu verteidigen. Dabei war er schon rund 60 Jahre alt. Alla weiß heute, dass er 1942 verhungert ist.

Alla im Jahr 1941, dem Jahr, in dem die Blockade Leningrads begann. Bild: privat

Wenn sie Sankt Petersburg besucht, besucht sie auch seine letzte Ruhestätte: ein Massengrab auf dem Peskaryov-Friedhof. Darüber steht „1942“, denn in den dortigen Massengräbern wurden die Verstorbenen nach ihrem Todesjahr beigesetzt. Im selben Jahr, jedoch vorher, wurden Alla und die  übrigen Familienmitglieder in einem Auto über den zugefrorenen Ladogasee, die so genannte Straße des Lebens, evakuiert. Allas Tante wurde als Ärztin in einem Militärkrankenhaus im Pamirgebirge benötigt. Dies verschaffte ihnen allen das Privileg der Rettung. Alla erinnert sich daran, dass der Ladogasee zwar im Mai noch zugefroren, aber das Eis der „Straße des Lebens“ bereits sehr dünn war. Immer wieder brachen Fahrzeuge ein.

Alla 1938, als Baby auf dem Arm ihres Großvaters. Bild: privat
FLUCHT VOR DEN SCHRECKEN DES KRIEGES

Auch während der anschließenden Flucht erlebte Alla Grausamstes. Nach der Überquerung des brüchigen Eises mussten die zum Teil schwer kranken Geretteten in Viehwaggons zusammengepfercht weiterfahren. Viele Menschen starben unterwegs. Ihre Leichen blieben bis zum jeweils nächsten Bahnhof auf dem Boden der Waggons liegen. Allas Mutter sammelte während der Pausen Schnee vom Boden auf, um ihn über einem Holzöfchen im Waggon zu schmelzen. Die Reisenden waren dehydriert und sehnten sich nach dem erwärmenden Getränk. „Woran ich mich sehr gut erinnere, ist, dass meine Mutter einmal ganz bitter weinte“, berichtet Alla. Als der Zug schon angefahren war, bemerkte die Mutter, dass sie mit dem Schnee auch Kot aufgesammelt hatte.

Der Zug wurde mehrmals bombardiert, einzelne Waggons mussten ersetzt werden. Alla und die anderen fürchteten um ihr Leben. Die höllische Fahrt endete im damaligen Stalingrad, und damit mit einer Entscheidung: Sollten sie die zum Dienst im Krankenhaus verpflichtete Tante weit in den Osten, in die Gebirgsstadt Osch begleiten, oder nach Naltschik fahren, das im Kaukausus und damit näher an Europa lag? Die Entscheidung von Allas Mutter fiel auf Naltschik, an das sie angenehme Erinnerungen hatte.

Dort planten sie, bis zum Kriegsende zu leben. Aber schon drei Monate später marschierten die Deutschen in unerwartetem Tempo auf die Stadt zu. Allas Mutter packte ihre Ausweise, und sie rannten buchstäblich zwischen den Pferdekarren, die die Verwundeten evakuierten, weg aus der Stadt.

In einem Ort namens Prochladnaja erwischten sie einen Zug. Später erfuhren sie, dass die Deutschen die in Naltschik verbliebenen Juden nicht lang nach ihrer Flucht vernichtet haben.

Die Flucht von Alla und ihrer Mutter endete schließlich in Osch. In dem kleinen Zimmer im Militärkrankenhaus, das die Tante und die Großmutter bewohnten, konnten sie nicht unterkommen. So nahm die Mutter Alla bei der Hand und sie gingen von Haus zu Haus, um eine Bleibe zu finden. Vielfach wurden sie unfreundlich abgewiesen. Auf der Straße wurde es mit der Dunkelheit wegen der streunenden Hunde gefährlich. Als es schon Nacht war, steckte Allas Mutter kurzerhand einen Fuß in die Haustür einer Frau, bevor diese sie wieder zuschlagen konnte. Die Mutter brach ihren Stolz, sie bat flehentlich um eine Übernachtungsmöglichkeit für ihre Tochter und sich. Die Frau gab nach. So fanden die beiden Flüchtlinge bei der später hilfsbereiten und freundlichen Familie für die nächsten dreieinhalb Jahre eine Unterkunft in einer Scheune, die sie mit einer Ziege teilten. Ein Laken trennte die Wohnbereiche. Alla kann sich noch sehr gut daran erinnern, wie sie Milch dieser einzigen Ziege der Familie trinken durfte, was ihr als äußerst humanitäre Geste in Erinnerung geblieben ist. Ihre Mutter selbst findet in der Zwischenzeit eine Stelle als Ökonomin.

Nach Kriegsende kommt Allas Vater nach Osch und sie kehren, wieder einmal in einem Viehwaggon, zurück in das schwer zerstörte Leningrad. Alla erinnert sich noch lebhaft an die vielen Leichen, die sie aus dem Zug heraus sah. Im Unterschied zur Blockadezeit sollte sie nicht mehr hungern müssen, denn es gab zwar nichts zu essen, aber amerikanische Lebensmittelhilfen wie Eipulver.

Zu ihrem Geburtsort Leningrad hat Alla bis heute ein gespaltenes Verhältnis: Einerseits sieht sie die Stadt als eine moderne und schöne Stadt mit historischen Gebäuden an, aber auf der anderen Seite assoziiert sie bis heute Schmerz und Hunger mit ihrer Heimatstadt.

Das Geburtshaus von Allas Mutter in Minsk (Weißrussland). Hier lebte Allas Tante mit ihrer Familie während des Krieges. Sie wurden alle von den Deutschen deportiert und ermordet. Im Ghetto von Minsk kamen 21 Familienmitglieder von Alla Sidorenko ums Leben. Bild: privat

„Immer, wenn ich Sankt Petersburg besuche, gehe ich zum Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof. Da sind tausende und abertausende Menschen begraben, die man aus der gesamten Stadt hierhin gebracht hat“

LEBEN NACH DEM KRIEG

Mit einem Jahr Verspätung – mit acht Jahren – wurde Alla eingeschult. Nach der Schulzeit absolvierte sie eine Ausbildung als Wirtschaftsfachfrau und heiratete Ende der 1950er-Jahre mit 19 Jahren.

Ihr Mann hatte einen guten Abschluss an einer Militärakademie gemacht und leistete hinterher in der Flotte Dienst. Alla zog mit ihm in den hohen Norden Russlands.

Etwa zwei Jahre später jedoch wurde ihr Mann, Ingenieur auf einem der ersten sowjetischen Atom-U-Boote, bei einem Unglück radioaktiv verstrahlt. Dies geschah der gesamten Besatzung. Allas Mann starb fünf Jahre später an Krebs. Alla war damals 35 Jahre alt. Inzwischen hatten sie zwei Kinder bekommen, die Alla nun alleine aufziehen musste.

Alla arbeitete als Ökonomin in der Statistischen Abteilung in Leningrad. Ihr Leben war bestimmt von Arbeit, Geschäftsreisen und der Not, die Kinder durchzubringen. Ihre Eltern und ihr 13 Jahre jüngerer Bruder unterstützten sie dabei sehr. Allas Sohn lebt heute in Sankt Petersburg und ihre Tochter  in Deutschland. Alla hat drei Enkelkinder, die alle in Russland wohnen.

EMIGRATION NACH DEUTSCHLAND

Alla emigrierte im Jahr 1997 nach Deutschland. In einem symbolpolitischen Akt Anfang der 1990er-Jahre erkannte die deutsche Regierung die Juden, die aus der zerfallenen Sowjetunion ausreisen wollten, als „Kontingentflüchtlinge“ an und gewährte ihnen Asyl. Dies geschah als symbolische Übernahme der „Verantwortung für die deutsche Geschichte“ und Akt der verspäteten Wiedergutmachung für die Vernichtungspolitik Nazi-Deutschlands gegenüber sowjetischer Juden im Zweiten Weltkrieg.

Insgesamt kamen rund 200.000 jüdische Einwanderer nach Deutschland. Sie erfüllten die lokalen jüdischen Gemeinden mit neuem Leben und integrierten sich erfolgreich in die deutsche Gesellschaft. Heute sichern sie das Weiterleben der jüdischen Identität und Kultur in Deutschland.

„Man muss ständig gegen Faschismus eintreten. Man muss dafür kämpfen, dass die Schrecken des Krieges sich nie wiederholen, und dass nie wieder so viele Menschen ihr Leben lassen müssen.“

In Deutschland fühlt sich Alla wohl. Sie bekennt sich hier zum jüdischen Glauben, den die Familie in sowjetischen Zeiten aufgrund der religionsfeindlichen Politik nur privat leben konnte. Sie ist Mitglied der Kölner Synagogengemeinde und stellvertretende Vorsitzende in der

„Vereinigung der Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Überlebenden der Leningrader Blockade und Häftlinge der Ghettos und Konzentrationslager“. Daneben engagiert sie sich in einer weiteren internationalen Organisation von Überlebenden der Leningrader Blockade. In Köln fragte sie einmal einer ihrer Nachbarn, woher sie komme. Sie antwortete: „Aus Leningrad.“ Darauf der Nachbar: „Ich habe Leningrad von Pulkower Höhen aus beschossen“. Er sei damals 18 Jahre alt und gewesen und habe ohne nachzudenken den Schießbefehl ausgeführt. „Er erwies sich später als ein sehr netter Mensch“, sagt Alla. Auf die Frage nach ihrem Engagement in den Organisationen antwortet sie, dass sie die Erinnerung an die Schrecken der Blockade weitergeben möchte.

Bild: Timo Vogt

„Die Jugend muss aus unseren Erlebnissen lernen, damit sie unter keinen Umständen die Schrecken erleben, die uns zuteil geworden sind.“ Mit dem Satz wendet sich Alla an die junge Generation. Ihre pazifistische Haltung begründet sich in den Leiderfahrungen ihrer Kindheit die sie bis heute geprägt haben. Ihr Appell an die jungen Menschen ist nicht nur, sich zu informieren, sondern aktiv zu werden für Frieden.

Interviews: Kübra Akmantemiz, Michalea Elstner, Aylin Özbucak, Marlon Zimmermann

Das Hochzeitsfoto von Alla Sidorenko und ihrem Mann. Sie bekamen zwei Kinder. Alla Sidorenkos Mannverstarb leider schon, als sie 35 Jahre alt war. Bild: privat