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Biografie von Elena Shtrum

Von Lisa Steinhoff

Elena Shtrum wurde 1923 in Kiew geboren. Ihre Familie wurde zum Opfer des „Großen Terrors“ unter Stalin, weshalb auch sie als „Volksfeindin“ gesellschaftlich geächtet war. In dieser Situation musste Elena Shtrum vor den Deutschen fliehen, um den Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung zu entgehen. Autorin Lisa Steinhoff berichtet unter anderem von den couragierten Menschen, die ihr halfen, ihren Lebensweg zu gehen.

„In schlechten Zeiten gibt es gute Menschen.“ Diesen Satz wiederholt Elena Shtrum im Interview über ihr Leben während des Zweiten Weltkriegs immer wieder. Feingliedrig, wie sie ist, wirkt sie zerbrechlich. Das Alter hat Furchen in ihr Gesicht gezeichnet. Aber aus ihren hellwachen, klaren Augen spricht der Drang, ihr reichhaltiges Wissen weiterzugeben und ihre vielen Geschichten zu erzählen. In ihren mehr als 90 Jahren hat sich bei ihr ein Schatz an Erfahrungen angesammelt.

 

Die Kindheit in Kiew

Elena Shtrum wurde am 23. Mai 1923 in Kiew, der Hauptstadt der heutigen Ukraine, geboren. Elenas ­Mutter Gilda Albertina wurde 1895 in Leipzig geboren. Sie war Ärztin. Elenas Vater Lew Shtrum, Jahrgang 1890, war ein erfolgreicher Professor der Theoretischen Physik. Von ihm erzählt Elena Shtrum mit Stolz. Der Großvater war Ingenieur.

Elena zufolge war er am Bau der Transsibirischen Eisenbahn beteiligt. Elenas Vater hatte noch einen Sohn aus erster Ehe. Dieser Bruder Elenas wohnte mit seiner Mutter in Leningrad.

Als ihre schönste Kindheitserinnerung beschreibt Elena Shtrum, wie sie, damals 13 Jahre alt, mit ihrer Großmutter Ida das Operntheater in Kiew besuchte. Sie ging früher öfter mit ihrer Mutter ins Theater. An die Handlung des Stücks, das sie mit ihrer Großmutter besuchte, kann sie sich nicht erinnern. Das bedauert sie, denn es könnte auch anders sein: „Manchmal erinnere ich mich an etwas vor dem Krieg und vergesse, was vor einer Woche war.“

Gut erinnert sie sich dagegen an eine Erfahrung, die sie schon bald darauf machen musste: „Das war der schlechteste Tag in meinem Leben.“ Es war in der Nacht vom 23. auf den 24. März 1936. Elena befand sich zu Hause. Sie bewohnte mit ihren Eltern zwei Zimmer einer Kommunalwohnung im Zentrum von Kiew, die insgesamt zehn Familien beherbergte. Elena lag gerade im Bett, als das furchtbare Ereignis passierte: Ihr Vater wurde verhaftet. Wie Elena Shtrum später erfuhr, gab es eine Anweisung aus Moskau, nach der zwölf Mitglieder der Ukrainischen Akademie für Wissenschaften verhaftet werden sollten. Und so traf es ihren Vater als einen von ihnen. Sie sollte ihn danach nur ein einziges Mal wiedersehen, bei einem Besuch im Gefängnis. Viel ­später erst erfuhr sie, dass ihr Vater erschossen worden war.

Lew Shtrum ist ein Opfer des „Großen Terrors“ unter Stalin – eines der größten Massenverbrechen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Repressionen des sowjetischen Staates nahmen allein in den Jahren 1937 und 1938 schätzungsweise 700.000 unschuldigen Menschen das Leben (vgl. Jünke). Vollständige Aufklärung über die Todesumstände ihres Vaters erhielt Elena Shtrum erst im Jahr 2018, nach einer Anfrage im KGB-Archiv der Ukraine. Demnach wurde Lew Shtrum am 22. Oktober 1936 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD als angeblicher Verräter und Konter­revolutionär zusammen mit weiteren 36 Ver­hafteten, meist prominenten Wissenschaftlern, in der Nähe von Kiew erschossen. Seine Akte enthält auch eine Liste des Inventars, das bei der Verhaftung geraubt wurde: drei Bücherschränke, ein Tisch, ein Schreib­tisch, ein Kleiderschrank, eine Lampe, etc. „Es war Stalinzeit“, sagt seine Tochter Elena im Gespräch. Von nun an war ihre Familie die eines „Volksfeindes“.

Elena Shtrums Mutter Gilda Albertina Iofan-Shtrum in den 1910er-Jahren. Bild: privat
Elena Shtrums Vater Lew Shtrum in den 1930er-Jahren. Er war ein anerkannter Physiker. Bild: privat

Im Jahr 1937 wurde Elenas Mutter Gilda vom NKDW als „Frau eines Volksfeindes“ in die Verbannung nach Norden geschickt, in die mehr als 2.000 Kilometer von Kiew entfernte Stadt Archangelsk.

Von dort aus musste sie nach Schenkursk weiter fahren. Dadurch, dass Gilda Ärztin war, bekam sie in dem kleinen Städtchen eine Stelle als Kinderärztin. Unter den während des Großen Terrors aus den Großstädten verbannten Frauen in Schenkursk ging das Gerücht um, die Kinder sollten ihnen weggenommen und in Heime gegeben werden. Dies machte ihnen Angst. So entschied Gilda, sich von ihrer Tochter Elena zu trennen. Diese fuhr mit einem Jungen und dessen Großvater nach Moskau. Der Mann war angereist, um seinen Enkel, das Kind einer anderen verbannten Frau, abzuholen. Gilda Albertina überredete ihn dazu, auch ihre Tochter mitzunehmen.

Elena Shtrum erinnert sich heute noch an die lange Fahrt auf einem LKW durch den Wald. Sie gelangten an eine Eisenbahnstation. Von hier aus fuhren sie mit dem Zug weiter. In Moskau blieb sie bei ihrer Tante und ihrer Großmutter, bis die Nachbarn herausfanden, dass das Mädchen die Tochter eines „Volksfeindes“ war. Daraufhin weigerten sich die Behörden, ihre Anmeldung bei der Tante zu verlängern. So musste Elena nach Kiew, zu ihrer anderen Großmutter. Sie bewohnten ein gemeinsames Zimmer und Elena ging zur Schule. Nur einen Monat nach ihrer Ankunft in Kiew, 1939, starb die Großmutter. Die gerade einmal 15-jährige Elena war nun auf sich allein gestellt.

In der sowjetischen Bürokratie damals riskierte sie als Minderjährige, das Zimmer zu verlieren. Doch: „Überall gibt es gute Leute.“ Eine Mitarbeiterin des Wohnungsamtes half Elena und meldete sie in der Wohnung an. So behielt Elena ihr Zimmer. In der Schule besuchte sie die neunte Klasse. Weil sie gute Noten und Zeugnisse hatte, verdiente sich Elena mit Nachhilfe für einen jüngeren Schüler ein bisschen Geld. Ihre Mutter schickte ihr ebenfalls Geld zu. Nach der Schule durfte Elena bei der Nachbarin in derselben Wohnung, in der sie früher gewohnt hatte und wo ihr Vater verhaftet worden war, Mittag essen. Auch diese Nachbarin zählt Elena zu den „guten Menschen in schlechten Zeiten“.
Dass es solche Menschen gebe, betont sie mit der Inbrunst tiefer Überzeugung. Ein zufriedenes Lächeln spielt dabei um ihre Mundwinkel. Sie selbst wurde als Tochter eines „Volksfeindes“ geächtet. Menschen, die „Volksfeinden“ halfen, wurden selbst zu solchen erklärt. Deshalb muss Elena das Angebot der Nachbarin als eine Heldentat empfunden haben.

Während ihrer Schulzeit lernte Elena einen ­Jungen kennen, den sie später in zweiter Ehe heiratete. Er war ihre erste Liebe, aber sie küssten sich noch nicht einmal: „Wir waren damals ganz anders als heutige Schüler.“ Auf die Frage, ob sie in der Schule Antisemitismus erlebt habe, antwortet Elena mit einem Funkeln in den Augen und einem ausdrucksstarken „Nein!“.

Ihr zufolge haben die Schüler sich untereinander als gleich angesehen. „In meiner Klasse waren Juden, Russen, Ukrainer und vielleicht noch andere, aber keine Nationalität war in unserer Schule“, erklärt sie. Jüdische und nicht-jüdische Kinder hätten einen gemeinsamen Freundeskreis gehabt. Im Juni 1941, mit 18 Jahren, vollendete Elena ihr Abitur. Drei Tage später, genau an jenem Tag, an dem der Abschlussball geplant war, brach der Krieg aus. Damit trennten sich vorerst die Wege von Elena und ihrer Jugendliebe.

Elena Shtrum in den 1930er-Jahren. Bild: privat
Flucht nach Kasan

Im Juli 1941 flüchtete Elena mit zwei Tanten und ihrer kleinen Cousine, die damals in die erste Klasse ging, vor den Deutschen aus Kiew. Sie ahnten, dass ihnen als Juden die Ermordung drohte.

Viele andere Juden in Kiew glaubten, dass die Berichte über die Grausam­keiten der Deutschen an den Juden sowjetische Propaganda seien, dass die Deutschen doch ein kultiviertes Volk seien, erinnert sich Elena. Wenige Wochen nach ihrer Flucht aus Kiew ermordeten die Deutschen am 29. und 30. September 1941 in der bei Kiew gelegenen Schlucht von ­Babij Jar schätzungsweise 34.000 Jüdinnen und Juden. Der Massenmord geschah wenige Tage nachdem die Deutschen die Stadt ein­genommen hatten. Bis zum Ende der Besatzung 1943 ermordeten die Deutschen in Babij Jar schätzungsweise 100.000 Menschen (vgl. Lang; Scriba „Die Schlacht b. Kiew“).

In ihrer weisen Voraussicht gingen Elena und ihre Familie, ohne Ausreiseerlaubnis, jede nur mit einem kleinen Rucksack bepackt, einfach zum Bahnhof.

 

Einige Juden in Kiew verstanden nicht, wer die Deutschen, was Faschismus, Antisemitismus waren.
Sie blieben in Kiew und wurden in Babij Jar erschossen

 

Alle Ticketschalter waren geschlossen. Auf dem Bahnhofs­vorplatz herrschte Chaos. Es waren viele Frauen da, mit viel Gepäck. Mit ihren kleinen Ruck­säcken konnten sich Elena und ihre Familie in Richtung Gleise bis zu einem eisernen Tor durchschlängeln. Die drängelnde Menge stürzte es einfach um. Elena erinnert sich an einen Güterzug, in den sich die Frauen hineindrängten. Ganze 24 Stunden lang bewegte sich der Zug auf den Gleisen hin- und her, bis er endlich startete. Elena und ihre kleine Reisegruppe fuhren, ohne zu wissen, wohin. Sie wussten nur, dass es nach Osten ging. Das war für sie das Wichtigste. Bloß nach Osten. Weg von den Deutschen. Nach zwölf Tagen hielt der Zug an einer Eisenbahnstation, an der alles noch so geordnet lief wie vor dem Krieg. Man bekam Tickets in Richtung Stalingrad oder Kasan. Sie entschieden sich, nach Kasan weiterzufahren.

In Kasan waren bereits viele andere Flüchtlinge angekommen, aber die kleine Reisegruppe fand sich in der Stadt zurecht. Eine Tante reiste weiter. Die andere Tante war Mathematiklehrerin, was ihr schnell zu Arbeit und einer Wohnung verhalf. Elena blieb bei ihr und nahm ein Studium auf. Ihr Wunsch, sich für Physik einzuschreiben, wurde ihr als Tochter eines „Volksfeindes“ verwehrt. Aber zur Fakultät der Chemie wurde sie zugelassen. Vormittags arbeitete sie als Sanitäts­helferin in einem Militärkrankenhaus, nachmittags besuchte sie die Vorlesungen. Ihre Chefin unterstützte sie sehr. Auch sie war für Elena einer der guten Menschen in den schlechten Zeiten. Nach rund zwei Jahren in Kasan erlebte Elena das Kriegsgeschehen unmittelbar: Im Zuge einer Offensive der Roten Armee gegen die Wehrmacht wurde der Krankenhausbetrieb an die Front verlegt. Den Beschäftigten standen nun die gleichen Essensrationen zu wie den Soldaten. So mangelte es auf der Zugreise nach Westen endlich einmal nicht an Essen. Elena Shtrum betrachtet diese Fahrt bis heute als eine der glücklichsten Zeiten ihres Lebens.

Im Jahr 1943 versorgte sie Verwundete, die direkt von der vordersten Frontlinie zu ihr gebracht wurden. Im Jahr 1944 wurde das Lazarett nach Kiew verlegt. Elena kam in ihre Heimatstadt, die am 6. November 1943 befreit worden war.

Elena Shtrum (Zweite von rechts) mit Kolleginnen bei der Arbeit im Militärkrankenhaus in Kasan. Bild: privat
Das Leben nach dem Krieg

Elena Shtrum erinnert sich gut an das Kriegsende, das die Menschen am 9. Mai 1945 in den Straßen von Kiew feierten. Später wurden in der Nähe des Postamtes einige deutsche Gefangene gehenkt. Elenas Mutter erlebte die Befreiung in Lagerhaft. Sie war 1944 als „Frau eines Volksfeindes“ erneut verurteilt worden. Sie sollte ins­gesamt neun Jahre in verschiedenen Straf­lagern ver­bringen. Elena nahm unterdessen in Kiew ihr Studium der Chemie wieder auf, das sie 1948 in Leningrad beendete. Zwei Jahre lang lebte sie dort in einem Zimmer mit ihrem 1946 aus der Armee ausgetretenen Bruder und dessen Frau. Im Anschluss an ihr Studium bekam sie für drei Jahre eine Stelle an einem Institut für elektro­chemische Energiespeicher (Akkumulatoren). Exakt nach Ablauf der Einstellungspflicht wurde sie entlassen – auf Anweisung der ideologischen Abteilung. Mit der Ächtung ihrer Familie hatte sie beruflich weiter zu kämpfen. Erst nach Stalins Tod konnte sie Fuß fassen.

Elena arbeitete und promovierte am renommierten Institut für Halbleiter von Abraham Ioffe. Der Wissenschaftler wird heute als Begründer der modernen Physik in der Sowjetunion angesehen.

 

Als Stalin starb, da hat meine Chefin aus dem Institut für Akkumulatoren gesagt, du kannst zu Ioffe ins Labor für Halbleiter gehen und dort arbeiten. Das war 1953. Und ich fragte: „Aber was sind Halbleiter?“ Sie sagte: „Weiß ich auch nicht. Aber wer Ioffe ist, weißt du auch.“

 

Elena heiratete einen Arbeitskollegen, bekam mit ihm einen Sohn und besuchte in den Urlaubstagen ihre Mutter. Dieser war es verboten, in einer Großstadt zu leben. Doch das Schicksal wollte es, dass Elena schon bald, im Alter von etwa 30 Jahren, ihrer Jugendliebe wieder begegnete. Der ehemalige Klassenkamerad war inzwischen Witwer geworden. Elena trennte sich von ihrem ersten Mann und sie heirateten. Im Jahr 1993 emigrierten sie nach Deutschland. Sieben Jahre später verstarb Elena Shtrums zweiter Mann in Köln. Ihr Sohn lebt in den Niederlanden.

Elena Shtrum besucht gerne klassische Musik­konzerte in der Kölner Philharmonie oder Kultur­veranstaltungen in der Synagogengemeinde. Nach Russland hält sie auch heute noch Kontakt, auch wenn einige enge Freunde inzwischen verstorben sind. In Deutschland hat sie ein ruhiges und schönes Leben. Aber ihre Heimat ist es nicht geworden.

Die Interviews führten Rosa Kriegel, Lisa Steinhoff und Marlon Zimmermann.