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Biografie von Marzye

Mein Name ist Marzye. Ich bin 18 Jahre alt und komme aus einer großen Familie, in einer kleinen Stadt in Afghanistan. Dort bin ich bis zur 10. Klasse zur Schule gegangen. Im Jahr 2015 bin ich mit meinem Bruder und seiner Familie nach Deutschland gekommen. Meine Mutter und mein jüngerer Bruder leben immer noch in Afghanistan. Mein Vater, der mich immer sehr unterstützt hat, ist vor einem Jahr gestorben. Meine anderen drei Geschwister leben inzwischen in München.

In Köln wohne ich allein in einer WG, gehe zur Schule und mache mir selbst Essen. In Afghanistan sind viele Mädchen in meinem Alter nicht mehr zur Schule gegangen – ich hatte Glück, weil mein Vater unbedingt wollte, dass ich zur Schule gehe. Er war sehr fortschrittlich und war für Gleichberechtigung. Viele Männer in Afghanistan wollen nicht, dass ihre Töchter mit 15 oder 16 noch zur Schule gehen. Mein Vater hat mich dagegen zur Schule gebracht – und sich dadurch auch selbst in Gefahr gebracht. Viele haben ihn gefragt: Warum machst Du das? Deine Tochter soll zu Hause bleiben! Heiraten! Er hat gesagt: Nein, ich will, dass meine Tochter selbst über ihr Leben entscheidet und etwas lernt.

Dorf in Afghanistan, 2009. Bild: _MG_0046 PRT Meymaneh / flickr / CC BY 2.0

In unserer Heimatstadt waren die Taliban, wir hatten jeden Tag Angst, vor allem die Frauen. In Kabul können die Frauen dagegen unverschleiert herumlaufen und zur Universität gehen, in meinem Heimatort gehen sie fast nie vor die Tür. Ich musste keine Burka tragen, aber immer auch mein Gesicht verhüllen, Nikab, nennt sich das glaube ich.

Irgendwann sagte mein Papa, dass es besser ist, wenn wir fliehen – die Taliban könnten uns vergewaltigen oder umbringen. Wir sind erst nach Pakistan, von dort in den Iran und dann In die Türkei und nach nach Griechenland geflohen, über den Balkan und Österreich kamen wir nach Deutschland.

Wir waren mehr als einen Monat unterwegs.

Über das Mittelmeer sind mit einem Schlauchboot nach Griechenland gekommen. Ich hatte große Angst.  Wir waren nicht 10 Leute oder 20 Leute sondern 70-80 Leute in einem kleinen Boot. Die Schleuser haben viele Familien getrennt. Als ich das Boot gesehen habe und dann sah, wie viele darauf gefahren sind, dachte ich, dass wir alle ertrinken. Mitten auf dem Meer haben wir ein Boot gesehen, bei dem der Motor ausgefallen war. Die Frauen weinten, die Kinder haben geschrien. Das war schrecklich, wir sind an denen vorbei gefahren.  In Mazedonien, Serbien und Kroatien mussten wir viel zu Fuß laufen. Einmal habe ich auch ein Interview gegeben, weil ich ein bisschen Englisch kann. Ich war immer müde und habe meinen Bruder oft gefragt, wann wir ankommen: Habe Geduld, hat er immer gesagt, wir werden ankommen.

Momentan ist alles gut in Deutschland – nur meine Familie fehlt mir, vor allem meine Mama.

Aber ich gehe zur Schule, ich habe viele Möglichkeiten, es ist viel besser als Afghanistan. In Afghanistan dürften Frauen nicht ehrlich reden. Hier darf jeder seine Meinung sagen. Jeder darf selber entscheiden. In Afghanistan ist es nicht möglich, dass eine Frau alleine lebt, hier lebe ich alleine. Dort gab es Schulen extra für Mädchen und extra für Jungs. Hier gehen Jungs und Mädchen zusammen in eine Schule. Bei uns werden Jungs und Mädchen meistens verheiratet, ohne sich zu kennen, das war auch bei meinen Eltern so – hier ist das nicht vorstellbar.

Rassismus habe ich auch schon erlebt, Leute haben über mein Kopftuch und auch über mein anfangs schlechtes Deutsch gesprochen. Ich habe nicht reagiert und glaube auch, das ist besser so. Ich glaube nicht, dass Köln eine rassistische Stadt ist. In Afghanistan gab es mehr Rassismus – gegen Menschen aus einer anderen Kultur, mit anderer Hautfarbe oder Religion. Hier kann ich mich mit allen unterhalten.

Ich habe noch Kontakt zu meiner Mutter und meinem Bruder. Ich höre nicht oft etwas von ihnen, da dort kein guter Empfang ist aber manchmal klappt es und dann telefonieren wir.

Ich hoffe, dass sie irgendwann nach Deutschland kommt. Es ist nicht leicht, den Alltag ganz allein zu organisieren. Einmal habe ich verschlafen, bin zu spät zur Schule gekommen – dann denke, dass meine Mama früher immer dabei war und mir geholfen hat. Ich war immer pünktlich.

Manchmal esse ich allein, aber ich kann nicht gut kochen. Auch dann denke ich oft an meine Mama.

Ich hab keinen Traumberuf, aber ich würde gerne einen Film über Afghanistan drehen und etwas für die Frauenrechte dort tun. Viele Frauen dort werden bedroht und leben nicht frei.

Ich mag gerne Volleyball und ich bin hier in einem Verein seit einem Jahr. Ich vermissen sehr meine besten Freundinnen aus der Schule.

In der Schule habe ich ein paar neue Freunde gefunden wir haben uns jetzt auch privat schonmal getroffen, das ist schön. Jeder braucht Menschen, denen er vertrauen kann, denen er erzählen kann, wenn es ihm schlecht geht. Manchmal haben Mitschüler auch Vorurteile. Und fragen mich, warum ich allein wohne. Warum ich Kopftuch trage. Ich trage es, weil ich es schön finde, sage ich dann. Was andere über mich denken, ist mir egal. Jeder geht seinen eigenen Weg.

Als wir aus Afghanistan flohen, wussten wir nicht, wo wir landen. Ich wusste nichts von Deutschland, gar nichts. Nur ein paar deutsche Militärautos hatte ich zu Hause mal gesehen.

Irgendwann waren wir in Düsseldorf. Dort kamen wir erstmal in ein Flüchtlingswohnheim, und von dort ging es irgendwann nach Köln. Eigentlich wollten wir in die Türkei, aber als wir dort waren, sagte man uns, es gebe kaum Möglichkeiten dort. Freunde von meinem Bruder schlugen vor, wir sollten nach Schweden gehen. Einige Übersetzer sagten, in Europa sei jedes Land gleich gut.

In Köln war es zuerst schwer, Deutsch ist so eine schwere Sprache! Zwischendurch war ich so frustriert, dass ich nicht mehr zur Schule wollte. Aber jetzt geht es.

Afghanistan. 2009. Bild: Wikimedia Commons / Staff Sgt. Russell Lee Klika, US Army National Guard

Mein Vater hat mir beigebracht, dass Bildung das wichtigste. Ich war in der ersten Klasse ich konnte nicht lesen und schreiben und da hat mein Vater jede Woche für mich drei Kinderbücher gekauft und gesagt ich solle mir die angucken. In den Sommerferien habe ich extra einen Kurs belegt, Sprache, Mathe und Englisch, weil ihm das so wichtig war.

Genauso wie die Gleichberechtigung. Hier ist es normal, dass ich mit einem Klassenkameraden zusammen lerne, in Afghanistan wäre das undenkbar. Es ist schön, dass Deutschland so tolerant ist. Ich habe Religion als Schulfach, der Lehrer hat mich gefragt, warum Religion? und ich habe gesagt, weil ich etwas über die anderen Religionen lernen möchte. Man muss nicht so religiös sei, dass man den Kontakt zu anderen Menschen abbricht. Ich würde sagen, dass ich gläubig bin, aber nicht religiös.  Wenn Sunniten Schiiten umbringen, verstehe ich das nicht. Wenn Menschen andere Menschen umbringen, sind das keine Muslime. Schlimm finde ich, wenn Frauen nicht singen dürfen, nicht in Konzerte gehen dürfen, zwangsverheiratet werden, umgebracht werden. Unser Prophet hat gesagt, wenn die Mädchen nicht einverstanden sind, müssen sie nicht heiraten. Niemand darf sie zwingen – und trotzdem machen die Männer das im Namen des Islam und keiner redet über die Rechte. Viele Mädchen werden vergewaltigt in Afghanistan – im Namen der Religion, die ausgenutzt wird.  Das kann man nicht akzeptieren. Es gibt viele Menschen, die sehen ihre eigenen Probleme nicht.

Kopftücher trage ich, weil ich sie schön finde, sie erinnern mich an zu Hause.

Ich trage sie nicht aus religiösen Gründen.

Wenn einige darüber reden, stört mich das nicht. Was mich stört, ist, dass einige Schüler kaum Respekt vor den Lehrern haben.

Dass Landsleute von mir wieder zurückgeschickt werden nach Afghanistan, verstehe ich nicht. Bei uns ist immer noch Krieg. Neben unserem Haus in Afghanistan gab es eine Polizeistelle, die von den Taliban abgefackelt wurde. Außerdem wurden afghanischen Soldaten dort umgebracht. Das habe ich leider live miterlebt. Als wir in andere Städte gefahren sind, haben wir das auch gesehen.

Meine Heimat vermisse ich oft, und frage mich, warum meine Heimat so ist, wie sie ist. Manchmal frage ich mich auch, warum meine Heimat nicht so ist wie Deutschland und warum wir als Kinder so viel ertragen müssen.