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Interview mit Sowmar Kreker

Gegenwärtige Perspektiven auf Flucht

ABSCHIED UND VERLUST

Sowmar Kreker befindet sich seit 2015 in Deutschland. An seinem Herkunftsland Syrien kritisiert er die Diktatur und Korruption. Vor dem Bürgerkrieg studierte Sowmar Kreker in Damaskus Vermessungstechnik. Er war Mitbegründer des Damaskus Kinoclubs und engagierte sich bei einer Beobachtungsstelle für Frauenrechte. Im Jahr 2011 beteiligte sich Sowmar an den Demonstrationen gegen das Regime. Deswegen wurde er vorüber­gehend inhaftiert. Nach seiner Freilassung floh er nach Jordanien. Dort schlug er sich mit Unterstützung von Freunden durch. Es dauerte zwei Jahre, bis er verstand, dass seine Heimat für ihn verloren war.

Kannst du von dem Tag berichten, als du von zu Hause weggegangen bist?

Ich kam am 1. April aus dem Gefängnis. Das war 2012. Es war in der Nacht. Ich ging nach Hause. Nach einigen Tagen, ich war gerade zu Besuch bei Verwandten, rief meine Mutter an. Sie sagte: „Hallo, einer vom Geheimdienst der Armee kam zu uns. Sie suchen nach dir. Tu‘ etwas, und komm‘ nicht nach Hause!“ Das war glaube ich am 9. April. Am 12. April nahm ich meinen Rucksack und fuhr illegal in den Süden Syriens.

Ich ging nach Jordanien. Ich überquerte die Grenze illegal, weil ich keinen Pass hatte. Ich hatte die Wahl, entweder in die Berge zu gehen und mich am Kampf gegen das Regime zu beteiligen, in den Libanon oder nach Jordanien zu gehen. Ich wollte in den Libanon, aber mein Bruder warnte mich: „Geh‘ nicht dort hin, Syrien und Libanon stehen auf derselben politischen Seite. Du wirst große Probleme bekommen. Jordanien ist viel sicherer.“ Deshalb ging ich nach Jordanien.

 

Du warst im Gefängnis, hast du gesagt?

Ich war einen Monat lang inhaftiert, wegen der Beteili­gung an der politischen Bewegung. Sie kamen in unser Haus, nahmen mich, meinen Vater und fünf meiner Cousins mit. Wie bei einem Familienausflug gingen wir alle zusammen. Wir waren einen Monat dort, es war aber kein Gefängnis, sondern so etwas wie ein Haftzentrum für politische Gefangene.

In Damaskus?

 Ja, in Damaskus. Wir haben vier Geheimdienste. Den militärischen, den der Luftwaffe, den normalen und den politischen. Das war der politische Geheimdienst.

Wie hast du dich damit gefühlt, das Land zu verlassen? War die Entscheidung schwierig?

Nein, sie war nicht schwierig. Es war keine Tragödie für mich, das Land zu verlassen, weil ich dachte, es sei nur für ein paar wenige Monate. Dann würde ich zurückkommen. Die Regierung wäre dann weg, gestürzt. Also, sagte ich mir, das ist die Gelegenheit für ein Abenteuer im Ausland. So nahm ich nur einen kleinen Rucksack und Geld im Wert von etwa 50, 60 Euro mit. Genug, denn Syrien ist wirklich billig. Ich hätte nie gedacht, dass Jordanien so teuer ist. Es ist doppelt so teuer wie Deutschland. Mit den rund 60 Euro bin ich also dort angekommen.

Mein Freund fragte mich: „Hast du Geld?“– „Natürlich habe ich Geld, ich habe 60 Euro.“ Er sagte: „Nimm das.“ – „Nein, nein…“ Ich verließ meinen Freund in Amman und besuchte meinen Cousin, der ebenfalls in Amman wohnte. Für das Taxi und für Zigaretten gab ich 20 Euro aus.

Ich dachte, die 60 Euro würden mir für einen Monat reichen. Am nächsten Tag war ich pleite. […]

Illustration: Sümeyye Savaş

War es nicht frustrierend, so lange für Gerechtigkeit gekämpft zu haben, und es änderte sich so lange nichts?

Nein, ich fühlte mich niemals wütend, weil wir damit anfingen, unsere Rechte einzufordern und zu demons­trieren. Dann ging direkt der Krieg los. Auch heute bin ich nicht wütend, ich war die meiste Zeit außerhalb von Syrien. Bei dem, was um dich herum passierte, hattest du keine Zeit, wütend zu sein. Wir machten jetzt solche Dinge wie Menschen innerhalb einer Belagerung ernähren, Krankenhäuser aufbauen, Medizin in die Belagerung schmuggeln. Du hast keine Zeit, wütend zu werden. Du bist immer unter Strom. Vielleicht fühlst du nach einer Weile Depression, dass du dein Land verloren hast, deine Verbindungen, all deine Erinnerungen. Aber damit kannst du leben, das ist nicht so schwierig.

In welchem Moment hast du das zum ersten Mal gefühlt?

 Dass ich alles verloren habe? Ich glaube, ich habe mehr gewonnen als verloren. Ich fühle keinen Verlust.

Wann hast du zum ersten Mal gedacht, ich habe a, b, c, verloren?

 Ich glaube das war 2014, als ich zu der Ansicht kam, dass die Regierung nicht stürzen wird und alles noch härter und schwieriger würde. Vor 2014 dachte ich, irgendwann wird die Regierung fallen. Aber jetzt glaube ich, das wird sie nie. Leider.

AUFBEGEHREN

Sowmar Kreker erreichte Deutschland über die Türkei, Griechenland, die Balkanländer und Österreich. Nach seiner Flucht aus Syrien 2012 lebte Sowmar Kreker in Jordanien. Seine Familie lebte noch in Syrien, wo sich die Sicherheitslage weiter verschlechterte. Deshalb schickten die Eltern schließlich ihre beiden 15 und 21 Jahre alten Töchter auf die Flucht. Sowmar traf seine Schwestern 2015 in Istanbul, um sie nach Europa zu begleiten. Als sie in der Türkei in Richtung Griechenland unterwegs waren, ging das Foto des ertrunkenen syrischen Jungen Aylan Kurdi durch die Medien. Sein Tod löste unter den Flüchtlingen Angst und Entsetzen aus. Mit vielen anderen, die in der Türkei festsaßen, kämpften Sowmar Und seine Schwestern für das Recht auf eine sichere überfahrt nach Europa.

Die Demonstration war am 15. September 2015. Wir starteten auf der Autobahn Richtung Bulgarien oder Griechenland. Drei Tage lang demonstrierten wir auf der Autobahn, und das war recht aufregend. Nach drei Tagen versuchten wir mit der Regierung zu verhandeln, dass wir über die Grenze wollten, und dass wir mit politisch Verantwortlichen der EU sprechen wollten. Wir wollten nicht mit der türkischen Regierung reden. Diese sagte: „Die wollen euch nicht. Das kommt in den Nachrichten.“

Am dritten Tag haben wir die Autobahn von ­vielleicht 12 Uhr mittags bis 10 Uhr nachts blockiert. Dann kamen Militär und Polizei und brachten uns in eine Stadt. Nicht ins Gefängnis, aber zu einem besseren Platz, um unsere Demonstration fortzusetzen. Als ich dort aufwachte, waren aus 3.000 Menschen vielleicht 150 geworden. Alle waren gegangen, weil die Regierung das Gerücht verbreitete, die Armee würde uns fest­nehmen und uns ins Gefängnis oder in ein Lager sperren. Also gingen die Leute weg. Ich, meine Schwestern und zwei Cousins blieben. Das war die Demonstration.

 

Kannst du uns etwas über die Reise berichten? Über deine Gedanken, Probleme und Gefühle?

Zuerst, während der Demonstration, war ich super aufgeregt, denn ich mag politische Aktionen. Ich begann, als Journalist über die Demonstration zu berichten, schickte Nachrichten und Berichte. Es war richtig gut für mich, aber meine Schwestern waren ermüdet. Am dritten Tag auf der Autobahn wurden sie sauer. Sie wollten zurück nach Istanbul. Wir machten dann einen Deal. Fünf Kilometer weiter gab es ein sehr kleines Dorf. Ich ging dorthin und managte, dass sie irgendwo duschen und sich ausruhen konnten. Dann kamen wir zurück. Es war ganz lustig, weil noch ein Freund von mir aus Italien dabei war, der Fotograf ist. Er kam in die Türkei und begleitete mich auf der gesamten Reise. Wir waren 14 aus unserem Dorf, wir hatten viel Spaß zusammen. Wir fuhren in den Süden, um die Überfahrt zu machen. Ungefähr zehn Tage verbrachten wir dort, lagen am Strand, tranken Eistee, aßen erstaunlich lecker und verhandelten mit dem Schlepper, der sein Geld haben wollte. Ich habe ihm gesagt, ich habe nur so und so viel, und ich warte, bis du bei dem angekommen bist, was ich bezahlen kann.

Es gab zwei Stressmomente: Bei der Demonstration kämpfte meine Schwester gegen die Soldaten und Polizisten. Ich sah nur die kämpfenden Menschen und suchte nach ihr, aber konnte sie nicht entdecken. Sie ist 20 Jahre alt, klein und schmal, 53 Kilogramm. Ich konnte sie nicht sehen. Und dann hörte ich aus der Mitte der Kämpfenden heraus ihre Stimme – sie kämpfte. Ich war sehr gestresst. Ich sah Menschen – ich kann euch Fotos von dem Kampf mit der Polizei schicken – die sahen wirklich beängstigend aus. Ich wollte zu meiner Schwester, aber da kämpften 1.500 Menschen und ich kam nicht durch. Dann kam sie heraus und schaute mich an: „Wo warst du, warum kämpfst du nicht?“ – ­„Entschuldigung – weil ich nicht kämpfe!“

 Meine Schwestern überquerten vor mir das Meer. Ich wartete mit dem Schlepper und einer Frau ihre Überfahrt ab. Das waren nur 15 Minuten. Während derer war ich sehr gestresst. Ich wollte, dass sie ankämen. Als sie drüben waren, sagte ich mir: „Okay, setz dich wieder hin und entspann dich!“ Das sind die beiden Momente, in denen ich Stress hatte.