Wenn sie Sankt Petersburg besucht, besucht sie auch seine letzte Ruhestätte: ein Massengrab auf dem Peskaryov-Friedhof. Darüber steht „1942“, denn in den dortigen Massengräbern wurden die Verstorbenen nach ihrem Todesjahr beigesetzt. Im selben Jahr, jedoch vorher, wurden Alla und die übrigen Familienmitglieder in einem Auto über den zugefrorenen Ladogasee, die so genannte Straße des Lebens, evakuiert. Allas Tante wurde als Ärztin in einem Militärkrankenhaus im Pamirgebirge benötigt. Dies verschaffte ihnen allen das Privileg der Rettung. Alla erinnert sich daran, dass der Ladogasee zwar im Mai noch zugefroren, aber das Eis der „Straße des Lebens“ bereits sehr dünn war. Immer wieder brachen Fahrzeuge ein.
FLUCHT VOR DEN SCHRECKEN DES KRIEGES
Auch während der anschließenden Flucht erlebte Alla Grausamstes. Nach der Überquerung des brüchigen Eises mussten die zum Teil schwer kranken Geretteten in Viehwaggons zusammengepfercht weiterfahren. Viele Menschen starben unterwegs. Ihre Leichen blieben bis zum jeweils nächsten Bahnhof auf dem Boden der Waggons liegen. Allas Mutter sammelte während der Pausen Schnee vom Boden auf, um ihn über einem Holzöfchen im Waggon zu schmelzen. Die Reisenden waren dehydriert und sehnten sich nach dem erwärmenden Getränk. „Woran ich mich sehr gut erinnere, ist, dass meine Mutter einmal ganz bitter weinte“, berichtet Alla. Als der Zug schon angefahren war, bemerkte die Mutter, dass sie mit dem Schnee auch Kot aufgesammelt hatte.
Der Zug wurde mehrmals bombardiert, einzelne Waggons mussten ersetzt werden. Alla und die anderen fürchteten um ihr Leben. Die höllische Fahrt endete im damaligen Stalingrad, und damit mit einer Entscheidung: Sollten sie die zum Dienst im Krankenhaus verpflichtete Tante weit in den Osten, in die Gebirgsstadt Osch begleiten, oder nach Naltschik fahren, das im Kaukausus und damit näher an Europa lag? Die Entscheidung von Allas Mutter fiel auf Naltschik, an das sie angenehme Erinnerungen hatte.
Dort planten sie, bis zum Kriegsende zu leben. Aber schon drei Monate später marschierten die Deutschen in unerwartetem Tempo auf die Stadt zu. Allas Mutter packte ihre Ausweise, und sie rannten buchstäblich zwischen den Pferdekarren, die die Verwundeten evakuierten, weg aus der Stadt.
Die Flucht von Alla und ihrer Mutter endete schließlich in Osch. In dem kleinen Zimmer im Militärkrankenhaus, das die Tante und die Großmutter bewohnten, konnten sie nicht unterkommen. So nahm die Mutter Alla bei der Hand und sie gingen von Haus zu Haus, um eine Bleibe zu finden. Vielfach wurden sie unfreundlich abgewiesen. Auf der Straße wurde es mit der Dunkelheit wegen der streunenden Hunde gefährlich. Als es schon Nacht war, steckte Allas Mutter kurzerhand einen Fuß in die Haustür einer Frau, bevor diese sie wieder zuschlagen konnte. Die Mutter brach ihren Stolz, sie bat flehentlich um eine Übernachtungsmöglichkeit für ihre Tochter und sich. Die Frau gab nach. So fanden die beiden Flüchtlinge bei der später hilfsbereiten und freundlichen Familie für die nächsten dreieinhalb Jahre eine Unterkunft in einer Scheune, die sie mit einer Ziege teilten. Ein Laken trennte die Wohnbereiche. Alla kann sich noch sehr gut daran erinnern, wie sie Milch dieser einzigen Ziege der Familie trinken durfte, was ihr als äußerst humanitäre Geste in Erinnerung geblieben ist. Ihre Mutter selbst findet in der Zwischenzeit eine Stelle als Ökonomin.
Nach Kriegsende kommt Allas Vater nach Osch und sie kehren, wieder einmal in einem Viehwaggon, zurück in das schwer zerstörte Leningrad. Alla erinnert sich noch lebhaft an die vielen Leichen, die sie aus dem Zug heraus sah. Im Unterschied zur Blockadezeit sollte sie nicht mehr hungern müssen, denn es gab zwar nichts zu essen, aber amerikanische Lebensmittelhilfen wie Eipulver.
Zu ihrem Geburtsort Leningrad hat Alla bis heute ein gespaltenes Verhältnis: Einerseits sieht sie die Stadt als eine moderne und schöne Stadt mit historischen Gebäuden an, aber auf der anderen Seite assoziiert sie bis heute Schmerz und Hunger mit ihrer Heimatstadt.