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Biografie von Donya Pentetska

Von Alina Grap

Donya Pentetska wurde 1936 im Gebiet der östlichen Ukraine geboren. Die Verfolgung der Juden hat ihre Familiengeschichte über Generationen hinweg geprägt. Den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg überlebte Donya Pentetska im Kaukasus.

Autorin Alina Grap schreibt unter anderem über Donya Pentetskas Angst um das Leben ihrer Schwester als diese auf der Flucht einmal verloren ging.

„Mir schien es Normalität“, sagt Donya Pentetska über die kindliche Wahrnehmung ihrer Flucht vor den Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Andere Kinder gehen in den Kindergarten, spielen Spiele. Oft gelten diese Jahre als prägende Zeit im Leben. Für Donya auch. Aber auf eine völlig andere Art, als sich Menschen, die später im friedlichen Europa geboren wurden, vielleicht vorstellen können.

Die heute über achtzigjährige Donya Pentetska erzählt von ihrer Kindheit im Krieg. Sie berichtet vom Bombenhagel auf einen Flüchtlingszug, von Todesfällen in der Familie, aber auch von der Hilfe der Roten Armee für die Bevölkerung, einer liebenden Mutter, gutherzigen Menschen und letzten Endes der wahren Liebe.

 

Familiengeschichte

Das Thema der Verfolgung der Juden stellte ihr Leben lang einen zentralen Punkt für Donya dar. Es reicht weit in ihre Familiengeschichte zurück, bis in die russische Revolution 1917 und den darauf folgenden Bürgerkrieg. Von klein auf hat sie von ihren Eltern die Geschichten von Pogromen gegen Juden und den Verfolgungen gehört. Daher bringt Donya die Jahrhunderte lange Verfolgung der Juden mit ihrer eigenen Lebensgeschichte in Verbindung.

Im Bürgerkrieg von 1918 bis 1922 wurden Juden im Gebiet der Ukraine Opfer zahlreicher Pogrome, organisiert durch plündernde Militäreinheiten (vgl. Schnell). Dieses Schicksal drohte auch den Familien von Donyas Eltern. Sie mussten sich deswegen bei Bauern verstecken. Donyas Mutter lebte im Dorf Schulinka im Gebiet von Winnitza.

Donyas Vater Vulka Brodski und Donyas Mutter in Mariupol, wo sie zur Kur in 1947 weilte. Bilder: privat

Die Jahrhunderte lange Verfolgung der Juden bringt Donya Pentetska mit ihrer eigenen Lebensgeschichte in Verbindung

Zu Beginn der 1930er-Jahre baute man die Industrie in der Ostukraine auf und siedelte die Bevölkerung aus den anderen Gebieten der Ukraine um. Dabei wurden jüdische Landwirtschaftskolonien gegründet, wie etwa im Gebiet „Stalindorf“ (heute Wakulowe) (vgl. Pasik). In eine dieser Kolonien, Fraydorf im Gebiet von Nikopol, wurde auch Donyas Familie umgesiedelt. Dort lernten sich Donyas Eltern kennen.

Am 7. Oktober 1936 wurde Donya schließlich geboren. Donya war das zweite von drei Kindern und lebte dort, unter dem Mädchennamen Brodskaja, mit ihrer jüngeren Schwester Sina und ihrer älteren Schwester Rakil sowie ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Großvater, dem Vater ihrer Mutter.

Flucht vor den Deutschen

Für Donya begann der Krieg mit dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Ab diesem Zeitpunkt musste sie vor den Deutschen fliehen. Der Hitler-Stalin-Pakt war gebrochen. Im Folgenden drangen die Deutschen nach Weißrussland und ins ukrainische Gebiet vor. In der Folge ereignete sich einer der prägendsten Momente in Donyas Leben.

Es handelt sich um die Verabschiedung ihres Vaters, der im Juli 1941 zum Militärdienst eingezogen wurde. „Es wurde jeder eingesetzt, der etwas Gutes an der Front bewirken konnte“, sagt Donya. Wenn sie heute von dem Moment erzählt, in dem ihr Vater mit seinem LKW über eine Brücke davonfuhr, sammeln sich Tränen in ihren Augen. Sie selbst war damals zu jung, um das Geschehen richtig wahrnehmen zu können: „Ich hatte keine Gefühle.” Ihr Haustier, ein kleiner Dachshund, lief dem LKW hinterher. Noch aus der Ferne sah Donya ihren Vater und den Hund verschwinden, ahnte aber nicht, dass sie beide nie wiedersehen würde.

Die Geburtsurkunde von Donya Pentetska, in russischer und jiddischer Sprache. Bild: privat

Kurz darauf verließ auch der Rest der Familie Fraydorf, bevor am 17. August 1941 die Deutschen ins Dorf marschierten. Die Mutter realisierte, dass sie flüchten mussten. Sie wurde von den Behörden gewarnt, vermutet Donya heute. Denn die Grausamkeiten der Deutschen gegenüber Juden seien bereits bekannt gewesen. Inzwischen haben Forschungen ergeben, dass die Evakuierung erst am 7. August 1941 angeordnet wurde und sehr chaotisch verlief. Die Menschen wurden faktisch sich selbst überlassen (vgl. Venger: 112-113). Die Flucht bezeichnet Donya als ein großes „Umherirren”.

Von zu Hause aus gelangten sie mit Hilfe eines kleinen Fuhrwerks bis ans Ufer des mächtigen Stroms Dnjepr. Dort herrschte großes Chaos, da die Menschen­massen alle auf ein kleines Schiff wollten, um das Wasser zu überqueren. Donya vermutet, dass dieser Andrang für die sowjetische Regierung sehr überraschend kam. Aufgrund des 1939 geschlossenen Nichtangriffspakts zwischen Stalin und Hitler seien keine weitreichenden Vorbereitungen für die Evakuierung solch großer Menschenmassen getroffen worden. Doch nun wurden alle Kräfte mobilisiert.

Am überfüllten Ufer versuchte das Militär, etwas Ordnung zu schaffen. Der alleinreisenden Mutter mit drei Kindern und dem Großvater wurde Zutritt zu dem Schiff gewährt. Am anderen Ufer des breiten Stroms übernachteten sie im Wald, nahe einer Gabelung des Flusses.

Nach einem für Donya damals sehr langen Fußmarsch mussten sie am nächsten Tag einen Nebenfluss des Dnjepr überqueren. Sie wurden mit Booten ans andere Ufer gebracht. Des Weiteren bekamen sie Hilfe von Bewohnern der umliegenden Dörfer. Für alle diese Hilfen waren Donya und ihre Familie sehr dankbar, da sie auf diese angewiesen waren. Nach der Überquerung fanden sie das Haus einer Frau, in dem sie eine Nacht verbringen durften. Am nächsten Morgen nahm ein LKW der Roten Armee sie mit nach Rostow am Don, wo sie erst einmal blieben. Aber die Deutschen marschierten unerbittlich in die Ostukraine vor, sodass sie den Entschluss fassten, weiter zu fliehen, die deutschen Truppen dicht auf den Fersen. Mit Hilfe einer Karre, auf die Donyas Mutter nur das Notwendigste auflud, gelangten sie zu einem weit entfernten Bahnhof.

Dort angelangt, stiegen sie in einen Zug. Auf der Fahrt ereignete sich die schrecklichste Situation, an die sich Donya erinnert.

Donyas Großvater. Die Aufnahme entstand 1943 am Zufluchtsort Dagestan, wo der gebrechliche Mann noch vor Kriegsende verstarb. Bild: privat

Viele Menschen steigen ein, es gibt keinen Sitzplatz. Doch plötzlich stoppt der Zug. Ein Bombenangriff! Rakil beginnt zu hyperventilieren. Donyas Mutter versucht sie zu beruhigen. Immer wieder greifen Flugzeuge den Zug an. Einmal drängen alle Menschen sich heraus und laufen in den umliegenden Wald hinein. Sie laufen in unterschiedliche Richtungen und es ist unglaublich laut. Es herrscht extremes Chaos.

Donyas Mutter will nicht, dass ihre Familie den Zug verlässt, aus Sorge, dass sie sich verlieren. Doch Rakil läuft mit den anderen heraus. Sie verschwindet in der Masse an Menschen im Wald, während ihr Großvater, ihre Mutter, Sina und Donya im Zug zurückbleiben. Aufgrund seines Alters kann der Großvater die Sitzbank des Zuges nicht verlassen. Donya hört die Schreie der Menschen. Bomben schlagen ein, Menschen fallen zu Boden. Mit Kinderaugen blickt Donya zu den Flugzeugen auf, doch hat sie keine Ahnung, in welch großer Gefahr sie sich befinden. Sie sieht allein die Verzweiflung in den Augen ihrer Mutter und hört sie in deren Rufen nach Rakil. Donya hat unglaubliche Angst. Die Menschen kommen bereits aus dem Wald zurück. Doch Rakil ist nicht dabei.

Endlich bringt jemand sie auf seinen Armen zum Zug. Sie hat sich im Wald in einer Grube verkrochen und lange dort alleine gelegen, zusammengekauert und voller Angst. Es ist großes Glück, dass jemand sie gefunden hat. Kaum lässt sie sich beruhigen, sie schüttelt sich und hat Panik vor den Bomben. Ihre Mutter setzt sie unter eine Bank, da es dort dunkel ist. Endlich kann Rakil sich beruhigen.

Nach insgesamt drei Monaten der Flucht und Ungewissheit „landete“ die Familie schließlich im Norden des Kaukasus-Gebirges, in der muslimisch geprägten Sowjetrepublik Dagestan. Dort nahm eine muslimische Familie die Flüchtlinge auf. Diese hatte jedoch schon viele andere Flüchtlinge aufgenommen und im Haus war kein Platz mehr. So musste Donyas Familie in der Scheune leben. Während ihres Aufenthaltes in Dagestan häuften sich die Probleme sehr.

Sina erkrankte. Donyas Mutter konnte weder lesen noch schreiben. Sie arbeitete an drei Stellen gleichzeitig, um die Familie zu ernähren: in der Landwirtschaft, als Putzfrau in einer Lehrschule und hier und da auch in privaten Haushalten. Des Weiteren verstarb Donyas Großvater. Die Frage, wer nun auf Rakil aufpassen würde, stellte die Mutter vor neue Probleme. Doch Donya hat auch positive Erinnerungen an jene Zeit.

Donya (rechts) und ihre jüngere Schwester Sina nach dem Krieg. Bild: privat

Ein schönes Ritual: Jeden Morgen trug Donya ihre kleine Schwester auf dem Rücken in den Kindergarten

Dass der Krieg vorüber war, empfanden sie als Freude. Im Jahr 1944 wurde Donyas Vater als vermisst gemeldet, und 1945 brachen sie aus Dagestan wieder nach Fraydorf/Nikopol auf. Ihre frühere Wohnung war zerbombt worden. Schon wieder stand die Familie vor der Frage einer Unterkunft. Einem Ort der Geborgenheit und Sicherheit.

Auf Beschluss der sowjetischen Behörden mussten damals verurteilte Straftäter einen Teil ihrer Woh­nung zur Verfügung stellen. Donya und ihre Familie hatten Glück im Unglück, denn dadurch wurde beim Direktor eines Lebensmittelladens, der wegen Diebstahls ver­urteilt worden war, ein Zimmer für sie frei. In solchen „Kommunalkas“ wurden sanitäre Einrichtungen und Küche von allen Familien geteilt. Donya empfand das Leben dort als sehr qualvoll, nicht zuletzt, weil der Direktor und seine Frau immer durch ihr Zimmer laufen mussten, bis endlich ein zweiter Eingang gebaut wurde.

Leben nach dem Krieg

Mit ihrer Einschulung ins Schuljahr 1945/46 wurde die damals bereits neun Jahre alte Donya endlich zum Schulkind. Acht Jahre lang besuchte sie eine ukrainische Gemeinschafts­schule. Die neunte und zehnte Klasse absolvierte sie direkt im Anschluss auf einer russischen Abendschule, mit der sie 1954 begann. Währenddessen arbeitete sie als Kassiererin in einem Fotogeschäft. Immer wieder schleicht sich ein Lächeln in Donyas Gesicht, wenn sie darüber spricht. Als das Angenehmste empfand sie die kommunikative Seite ihrer Arbeit. Schon immer war ihr Gesellschaft sehr wichtig. Donya wurde Mitglied in einem Chor und entdeckte das Singen als ein für sie wichtiges Hobby, das bis heute Teil ihres Lebens ist. Religion spielte für Donya keine Rolle. Sie vermutet, dass die russische Revolution die religiösen Traditionen auch in ihrer Familie beendet hatte: „Eigentlich wurden alle Religionen in der sowjetischen Zeit unterdrückt.“

Wie viele Jugendliche ging Donya gerne tanzen, war oft draußen und machte viel Blödsinn. Das war die fröhliche Seite dieser Zeit, die sie mit Freunden verbringen durfte. Jedoch gab es auch eine Schattenseite. Es musste eisern gespart werden und die Mutter war auf Donyas Unterstützung für die Familie angewiesen. Zugunsten ihrer jüngeren Schwester verzichtete Donya auf ein Studium.

Auch heute sieht sie es als selbstverständlich an, dass sie als Ältere zurücktrat. Nachdem Donya 1956 die Abendschule beendet hatte, begann sie eine Berufs­ausbildung als Qualitätskontrolleurin in einer Stahlrohr­fabrik in Nikopol. Später blieb sie bei diesem Beruf.

Donya entdeckte das Singen als ein für sie wichtiges Hobby, das bis heute Teil ihres Lebens ist

Mit 24 Jahren lernte Donya beim Tanzen ihren zukünftigen Mann kennen. Die Erinnerung an ihn lässt ihre Augen leuchten. Oft trafen sich die beiden miteinander, doch ohne sich näherzukommen. Sexuelle Verhältnisse vor der Hochzeit galten zu jener Zeit als Schande. Am 11. April 1961 heiratete das Paar. Sie bekamen zwei Töchter, die 1962 und 1966 geboren wurden.

Die Jahre verstrichen. Zu Beginn der 1980er-Jahre veränderte sich Donyas Leben. Weil ihre Arbeit in der Fabrik als gesundheitsschädlich galt, musste sie 1981, schon mit 45 Jahren, in Rente gehen. Die fehlenden Einkünfte konnte sie mit einer Anstellung als Ver­packerin in einem Lebensmittelgeschäft ausgleichen. Sie war sehr dankbar, dies tun zu dürfen, denn es herrschten Warenmangel und Lebensmittelknappheit.

„Ich war jung, ich hatte Freundinnen, wir gingen tanzen, wir gingen in den Park spazieren, wir gingen ins Kino, wir lernten junge Männer kennen, natürlich. Die Jugend, das ist die glücklichste Zeit.“ Donya Pentetska im Jahr 1956. Bild: privat

Plötzlich jedoch, 1982, starb Donyas Mann im Alter von nur 49 Jahren. Von heute auf morgen kümmerte sich Donya allein um zwei Kinder. Es war eine traurige Zeit. „Ich konnte den Tod meines Mannes nie wirklich verkraften“, gesteht sie sich heute ein. „Ich bin dieser ersten Liebe treu geblieben.“

Emigration nach Deutschland

In den 1990er-Jahren arbeitete eine Tochter Donyas bereits als Lehrerin. Obwohl sie alle zusammenhielten, herrschte in der Familie Armut. Sie spürten die negativen Aus­wirkungen der Perestroika-Politik. Diese sollte das System modernisieren, brachte aber die ohnehin angeschlagene sowjetische Wirtschaft zum Kollaps (vgl. Schröder; Kluge). Im Jahr 1998 starb Donyas Mutter. Donya beantragte 1999 Ausreisepapiere und reiste im Jahr 2000 mit ihrer älteren Schwester, ihren Kindern und ihrem Enkelkind nach Deutschland aus.

Dort begann für sie alle ein neues Leben. Die damals 64-jährige Donya hat jedoch nie Deutsch gelernt, zu beschäftigt war sie mit der Pflege ihrer älteren Schwester und dem Haushalt der Familie. Heute ist Donya dankbar, vom deutschen Staat aufgenommen worden zu sein und unterstützt zu werden, obwohl sie selber nun nicht mehr arbeiten kann. Sie vertraut ihren Kindern sehr, die sie im Alltag unterstützen. Inzwischen ist Donya Urgroßmutter geworden.

Auch in ihrem hohen Alter verfolgt Donya das Geschehen in der Welt. Verfolgung, Flucht und Krieg sind ihr vertraute Themen. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, was eine Bombardierung ist“, sagt sie. Ihre Sorge gilt dabei weniger sich selbst, als den jüngeren Generationen.

Die Fluchtbewegung nach Europa in den Jahren 2015 und 2016 erinnert sie an ihre eigene Situation in ­Dagestan, als die Einheimischen für Menschen in einer Notsituation Platz machten. Nur diesmal befindet sich Donya auf der anderen Seite des Geschehens.

Selbst nicht religiös, akzeptiert sie alle Religionen und Nationalitäten und hat Verständnis für Menschen, welche ihren Glauben vertreten. Doch sie hat absolut kein Verständnis für rechtsradikale Parteien. Zu sehr spiegeln deren Positionen die Gefahren des Antisemitismus wieder.

Donya singt im Chor der Kölner Synagogen­gemeinde und reist gerne. Zu Hause schaut sie gerne aus dem Fenster und betrachtet die Kinder, die unten auf der Straße spielen: „Da hat sich nicht viel geändert.“ Ob Kriegszeit, Nachkriegszeit oder eine Zeit ohne Krieg, Kinder finden immer ihren Weg, Kinder zu sein und sich weiterzuentwickeln. „Im Lauf des Lebens wird man euch oft Ratschläge geben. Ihr müsst alle hören, aber nicht alles machen. Die Entscheidung liegt bei euch“, sagt Donya Pentetska, in Form eines Lebensmottos, das sie an junge Menschen weitergeben möchte. Und lächelt ihr wunderbar offenes Lächeln.

Die Interviews führten Alina Grap, Sümeyye Savaş und Sophie Stroh