Im Jahr 1937 wurde Elenas Mutter Gilda vom NKDW als „Frau eines Volksfeindes“ in die Verbannung nach Norden geschickt, in die mehr als 2.000 Kilometer von Kiew entfernte Stadt Archangelsk.
Von dort aus musste sie nach Schenkursk weiter fahren. Dadurch, dass Gilda Ärztin war, bekam sie in dem kleinen Städtchen eine Stelle als Kinderärztin. Unter den während des Großen Terrors aus den Großstädten verbannten Frauen in Schenkursk ging das Gerücht um, die Kinder sollten ihnen weggenommen und in Heime gegeben werden. Dies machte ihnen Angst. So entschied Gilda, sich von ihrer Tochter Elena zu trennen. Diese fuhr mit einem Jungen und dessen Großvater nach Moskau. Der Mann war angereist, um seinen Enkel, das Kind einer anderen verbannten Frau, abzuholen. Gilda Albertina überredete ihn dazu, auch ihre Tochter mitzunehmen.
Elena Shtrum erinnert sich heute noch an die lange Fahrt auf einem LKW durch den Wald. Sie gelangten an eine Eisenbahnstation. Von hier aus fuhren sie mit dem Zug weiter. In Moskau blieb sie bei ihrer Tante und ihrer Großmutter, bis die Nachbarn herausfanden, dass das Mädchen die Tochter eines „Volksfeindes“ war. Daraufhin weigerten sich die Behörden, ihre Anmeldung bei der Tante zu verlängern. So musste Elena nach Kiew, zu ihrer anderen Großmutter. Sie bewohnten ein gemeinsames Zimmer und Elena ging zur Schule. Nur einen Monat nach ihrer Ankunft in Kiew, 1939, starb die Großmutter. Die gerade einmal 15-jährige Elena war nun auf sich allein gestellt.
In der sowjetischen Bürokratie damals riskierte sie als Minderjährige, das Zimmer zu verlieren. Doch: „Überall gibt es gute Leute.“ Eine Mitarbeiterin des Wohnungsamtes half Elena und meldete sie in der Wohnung an. So behielt Elena ihr Zimmer. In der Schule besuchte sie die neunte Klasse. Weil sie gute Noten und Zeugnisse hatte, verdiente sich Elena mit Nachhilfe für einen jüngeren Schüler ein bisschen Geld. Ihre Mutter schickte ihr ebenfalls Geld zu. Nach der Schule durfte Elena bei der Nachbarin in derselben Wohnung, in der sie früher gewohnt hatte und wo ihr Vater verhaftet worden war, Mittag essen. Auch diese Nachbarin zählt Elena zu den „guten Menschen in schlechten Zeiten“.
Dass es solche Menschen gebe, betont sie mit der Inbrunst tiefer Überzeugung. Ein zufriedenes Lächeln spielt dabei um ihre Mundwinkel. Sie selbst wurde als Tochter eines „Volksfeindes“ geächtet. Menschen, die „Volksfeinden“ halfen, wurden selbst zu solchen erklärt. Deshalb muss Elena das Angebot der Nachbarin als eine Heldentat empfunden haben.
Während ihrer Schulzeit lernte Elena einen Jungen kennen, den sie später in zweiter Ehe heiratete. Er war ihre erste Liebe, aber sie küssten sich noch nicht einmal: „Wir waren damals ganz anders als heutige Schüler.“ Auf die Frage, ob sie in der Schule Antisemitismus erlebt habe, antwortet Elena mit einem Funkeln in den Augen und einem ausdrucksstarken „Nein!“.
Ihr zufolge haben die Schüler sich untereinander als gleich angesehen. „In meiner Klasse waren Juden, Russen, Ukrainer und vielleicht noch andere, aber keine Nationalität war in unserer Schule“, erklärt sie. Jüdische und nicht-jüdische Kinder hätten einen gemeinsamen Freundeskreis gehabt. Im Juni 1941, mit 18 Jahren, vollendete Elena ihr Abitur. Drei Tage später, genau an jenem Tag, an dem der Abschlussball geplant war, brach der Krieg aus. Damit trennten sich vorerst die Wege von Elena und ihrer Jugendliebe.