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Biografie von Ella A.

Von Ilka, Franzi und Lars

,, Oświęcim war eine sehr schöne Stadt“, sagt Ella. „Ruhig und friedlich.“ Von ihrem kleinen Haus aus habe man direkt auf eine Militärkaserne auf der anderen Seite des Flusses schauen können. Die Kaserne wurde später zum ersten Vernichtungslager von Auschwitz umfunktioniert. Die Nazis nannten Oświęcim  Auschwitz.

Der Fluss Sola war ihr Spielplatz. Ella erinnert sich an einen Sommertag, an dem sie mit ihren Brüdern am Wasser spielte. „Ich bin auf Kisten gestiegen, die die Fischer am Fluss stapelten, bin runtergefallen, plötzlich lag ich im Wasser. Ich konnte nicht schwimmen, wahrscheinlich habe ich geschrien. Zum Glück war ein Fischer in der Nähe, der mich gerettet hat.“

Ella hatte sieben Geschwister, drei Schwestern und vier Brüder. Sie seien sehr arm gewesen, ihre Eltern arbeiteten als Schneider. Oft sei das Essen knapp gewesen, aber das habe die Familie nur noch mehr zusammengeschweißt.

Aus Erzählungen wisse sie, dass in der Nachbarschaft viele Menschen Katholiken gewesen seien und viele Juden wie ihre Familie, es aber keinen offenen Antisemitismus gegeben habe.

Marktplatz in Oświęcim. Bild: Wikimedia Commons / ID 619241 / CC BY-SA 3.0 PL

Als am 2. September 1939 die ersten Bomben einschlugen, sei ihre Kindheit zu Ende gewesen. Ella war zehn. Dass sie auch deswegen in Gefahr war, weil sie Jüdin war, habe sie nicht gewusst. Der Krieg sei mitten in der Nacht ausgebrochen, um 3 oder 4 Uhr. Ihre Brüder liefen auf die Straße und schrien „Krieg! Es ist Krieg!“, sie habe nicht verstanden, was los war. „Ich wusste nicht, was das heißt: Krieg.“

Ellas Mutter war bei Kriegsausbruch in Krakau bei ihrer kranken Schwester, ihr älterer Bruder Isaac nicht zu Hause. Mit dem Vater und den anderen Geschwistern packte sie das Nötigste, der Vater schloss die Tür ab und sagte den Kindern: „Wir gehen zur Mama nach Krakau, bestimmt können wir schon bald zurück.“

Ellas ältere Schwester Frida sagte: ,,Wir nehmen jetzt unsere Taschen und was zu essen. Wir gehen zu unserer Mutter nach Krakau und dann können wir bestimmt bald zurück.“

Ihr Vater schloss die Tür ab und sie gingen los in Richtung Krakau. Einige Zeit nach ihrer Flucht habe eine Nachbarin mit ihrem Sohn das Haus für sich genommen. Als ihr Bruder Isaac zurückgekehrt sei und nach seiner Familie gefragt habe, habe die Frau die Polizei gerufen. Einige Jahre später erfuhr die Familie, dass Isaac von den Deutschen verhaftet und im Konzentrationslager von Auschwitz ermordet worden war.

Auf der Flucht nach Krakau habe sich die Familie tagsüber oft in den Wäldern versteckt. Daran hat Ella auch schöne Erinnerungen. „Fremde Menschen haben uns gesehen und Essen gebracht. Es gab eine Solidarität, ohne die wir nicht überlebt hätten.“

Als die Familie in Krakau angekommen war, beschlossen die Eltern, dass sie nach Lemberg (Lwiw) gehen, weil ihr Vater dort eine Cousine hatte. Sie machten sich erst in einem offenen Zugwagen und dann zu Fuß auf den Weg.

Nicht weit von Lemberg suchten sie ein Nachtlager. Es war der Abend vor Jom Kippur, des höchsten jüdischen Feiertags. Eine jüdische Frau habe ihnen eine Holzscheune angeboten. Sie schliefen auf dem Boden, Ella lag direkt neben ihrem Bruder Shlomo.

In der Nacht hörten sie Schüsse. Ella fing an zu schreien: ,,Mein Fuß! Mein Fuß!“ Sie zündeten das Licht an. Jetzt sah Ella, dass  ihr Bruder in einer großen Blutlache lag. Die Kugel hatte die Holzwand durchstoßen und war von der Brust ihres Bruders bis in Ellas Unterschenkel gedrungen. Shlomo sei eine halbe Stunde später verstorben. ,,Ich habe zwei Brüder an einem Tag verloren.“ Die Kugel sei erst Jahre später bei einer Operation entfernt worden. „Manchmal spüre ich die Narbe noch. Wenn es mir nicht gut geht.“ An Jom Kippur beerdigte die Familie Shlomo.

80 Jahre später, am 9. Oktober 2019, versucht an Jom Kippur ein rechtsradikaler Täter mit Waffen in die Synagoge in Halle einzudringen, in der 70 Menschen zusammen beten und feiern. Er scheitert, ermordet aber in der Stadt zwei Menschen. Ella hat seitdem Angst, öffentlich ihre Geschichte zu erzählen. Zumindest möchte sie nicht mit vollem Namen genannt werden. Die Narbe spürt sie jetzt wieder öfter.

Die Mörder ihres Bruders Shlomo hätten vermutlich zu einer nationalistischen Gruppierung namens Stepan Banderas  gehört, erfuhr sie später. Es sei pures Glück gewesen, dass sie die Scheune nicht gestürmt hätten.

Nach dem Angriff flüchtet die Familie weiter nach Lemberg. „Mein Vater und mein Bruder Jakub haben mich abwechselnd getragen, ich konnte ja nicht laufen.“

In Lemberg blieb die Familie zwei Monate in einer Kirche. Da ein Teil der Stadt von der Roten Armee und ein anderer von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde, evakuierte die Rote Armee die Stadt, Ellas Familie floh weiter nach Usbekistan. „Wir wurden in einem Waggon mit über 40 Personen transportiert. Wir hatten großen Hunger, da wir nur Essen für eine Woche dabei hatten, aber fast einen Monat unterwegs waren. Mein Bruder Jakub ist später auch an Malaria verstorben, weil er zu schwach war.“

In Usbekistan wurde Ellas Vater an die Arbeiterfront geschickt, Mutter und Kinder wurden zum Baumwolle pflücken verpflichtet. Jakub bekam Malaria und Typhus gleichzeitig. „Es ist nicht vorstellbar, was es für meine Mutter bedeutete, einen weiteren Sohn zu verlieren.“

Ihr älterer Bruder Leonid meldete sich 1941 freiwillig zur Roten Armee, er war bei der Befreiung von Stalingrad und später von Berlin dabei.

„Ich war damals böse auf Leonid, für mich ließ er die Familie im Stich. Für junge Männer war es aber damals selbstverständlich, für ihr Land zu kämpfen.“

In die Schule gekommen ist Ella erst mit neun Jahren. Sie war sehr neugierig und wollte so viel lernen wie möglich. Sie besuchte eine Abendschule, schaffte das Abitur und ging als eine von nur sehr wenigen Frauen auf die Universität von Dnepropetrowsk, um Französisch für das Lehramt zu studieren. Mehr als 30 Jahre arbeitete sie in der Stadt als Französischlehrerin.

Nach Deutschland kam Ella im Jahr 2000, weil ihr Mann sehr krank war und die medizinische Versorgung hier besser ist. Es ist unglaublich, wie gut sie Deutsch spricht. Sie selbst sagt: „Es ist nicht perfekt, aber für die Note 3 würde es reichen.“ In Deutschland hat Ella zuerst in Overath im Bergischen Land gelebt, wo sie ihren Mann pflegte. Als ihr Mann im Jahr 2007 starb, zog sie in eine kleine Wohnung in einer Sozialbausiedlung in Köln. Dort engagierte sie sich in einem jüdischen Zentrum, organisiert Gesprächskreise und hält Vorträge über russische Literatur. Freitags bereitet sie sich auf den Schabbat vor, samstags geht sie in die Synagoge.

Hass gegenüber Deutschland empfindet Ella nicht. „Hass kommt von der Politik, von Ideologien“, sagt sie. „Faschismus ist keine Meinung, es ist ein Verbrechen.“

Den für sie wichtigsten Satz wiederholt sie immer wieder: „Ein Mensch muss immer ein Mensch bleiben.“

Ihre Geschichte kann Ella erst seit einigen Jahren öffentlich erzählen. Wir sind dankbar, dass sie zu uns in den Kurs gekommen ist, obwohl sie am Rollator geht und Schmerzen hat. „Ich mache das nur für Euch, ihr sollt nie erleben, was ich erlebt habe“, hat sie gesagt.

Von Ilka, Franzi und Lars