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Interview mit Herbert Rubinstein

Kopfbedeckung

Bevor ich in meine Kindheitsgeschichte eintauche, möchte ich etwas zu meiner Kopfbedeckung sagen. Es ist eine Kippa, auf der Kippa ist zu lesen Albert-Einstein-Gymnasium Düsseldorf. Da sind wir sehr stolz drauf, das ist das jüngste Kind unsere Gemeinde, das erste und einzige jüdische Gymnasium überhaupt in Nordrhein-Westfalen. Im Judentum ist es üblich, wenn man zusammensitzt und lernt und miteinander spricht, dass jüdische Männer eine Kopfbedeckung tragen. Nicht unbedingt nur, weil man fromm ist, es ist ein Brauch. Mit der Kippa zeigen wir, dass es noch eine höhere Macht gibt, die uns womöglich zuhört und uns beschützt.

 

Anfänge

Ich bin 84 Jahre alt und bin 1936 in Czernowitz in der heutigen Westurkraine  geboren. Unsere Familie war Teil der Stadtgesellschaft.  Man kann sich das vorstellen wie Bergheim. Als ich geboren wurde, hatte Czernowitz ca. 80.000 Einwohner, 40% dieser Einwohnerschaft waren jüdischen Glaubens. Ob liberal oder säkular, spielte keine Rolle, aber der jüdische Glaube war ein Bindeglied zwischen den Menschen. Jüdische und nicht jüdische Menschen haben in diesem Ort ein Beispiel gegeben für das Zusammenleben der Kultur. Der Ort der ehemaligen Bukowina war ein Schmelztiegel und Einzugsbereich für sehr viele kleine Städte und Dörfer, dadurch gab es viele Sprachen. Das ist wahrscheinlich ein Grund warum ich später wo ich in Gymnasium kam gesagt habe: „Sprachen sind Verbindungen zwischen den Menschen“  und dafür, dass ich fünf Sprachen als Pflichtsprachen hatte und zusätzlich Spanisch genommen habe. Als ich das Gymnasium verlassen habe, konnte ich also sechs Sprachen sprechen und dies hat mir im meinem ganzen Leben wunderbargedient.

Kindheit im Krieg

1936 zeichneten sich schon die Unruhen ab, der  Zweite Weltkrieg hat sich lange angekündigt. Die Nationalsozialisten sind 1933 an die Macht gekommen. Aber in der Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und 1933 war nicht unbedingt eine heile Welt, es gab unheimlich viele Veränderungen. Das machte sich auch in dem damaligen Czernowitz bemerkbar, denn Czernowitz war Rumänisch, bevor es im  Zweiten Weltkrieg zwischen 1940 und 1941 der ehemaligen Sowjetunion zufiel und danach wieder zu Rumänien gehörte, das mit dem Deutschen Reich verbündet war. Ein großer Teil der jüdischen Gemeinde von Czernowitz wurden ab 1941 deportiert und ermordet.

Wir als Juden sind immer die gebrannten Kindern gewesen in der Geschichte: Wenn irgendwo Unruhen waren oder schlechte wirtschaftliche Zustände herrschten,  waren immer die Juden an allem Schuld. Verfolgungen jüdischer Menschen führten dazu, dass in vielen Familien die Idee entstand, auszuwandern. Auch bei uns. Meine Familie hat über eine freiwillige Auswanderung nachgedacht, aber dann kamen die Deutschen und es war zu spät. Wir kamen Mitte Oktober 1941 in ein Ghetto, ich war damals sehr klein. Von dort gingen die Züge in die Konzentrationslager. Aber wir hatten Glück.

Der Krieg war vorher da. Czernowitz wurde bombardiert, das war beeindruckend für mich als Kind, das nur die eine heile Welt nur kannte. Das auf einmal diese ganzen Trümmer herumlagen, Häuser zerstört waren. Das waren Eindrücke, die mich nie losgelassen haben. Die Zeit zwischen 1940 und 1941 wussten wir nicht, was geschehen würde. Oft hörten wir Schüsse. Es war nicht weit weg, wo die Artillerie feuerte, der Krieg war präsent, aber noch nicht greifbar. Die fing erst richtig an, als entschieden wurde, dass 1941 ein Ghetto errichtet werden sollte. Wo die Juden der Stadt zusammengetrieben würden.

Czernowitz

Die Stadt Czernowitz liegt in einem Bereich, der etwas gebirgig ist, in so genannten Oberstadt und in der Unterstadt gab es unterschiedliche jüdische Menschen. Die sehr religiösen Juden wohnten in der Unterstadt, nicht weit von der Unterstadt war der Fluss Prud. Dann gab es einen bestimmten Bereich, in dem religiöse und weniger religiöse Menschen wohnten und dann ging es in die Oberstadt, wo das Rathaus war. Hier wohnten die aufgeklärten jüdischen Menschen, die mehr in die Stadtgesellschaft integriert waren und nicht unbedingt koscher lebten.  Schneider, Handwerker jüdische Infrastruktur und Hotels waren in der Oberstadt.

Diejenigen, die sich etwas mehr von der Religion abgewendet hatten, waren nicht ein Herz und eine Seele mit den streng religiösen Juden. Das sehen wir auch bei Katholiken und Protestanten in der Vergangenheit mal miteinander vergleicht – Ehen zwischen Protestanten und Katholiken gab es früher selten.

Ich bin sehr behütet in der Oberstadt aufgewachsen. Jeden Freitagabend gab es ein gemütliches Zkommenmein, Großvater seligen Angedenkens mütterlicherseits war Verwaltungsdirektor in der Bierbrauerei in Czernowitz, er kam dann mit ein paar Flaschen Bier nach Hause und ich als Kleinkind durfte dann ein kleinen einen Schluck Bier trinken. Seitdem mag ich so gerne Bier und man sieht es meinem Bauch an. In diese heilge Welt bracht der Krieg herein.

Ghetto

Meine gottselige Mutter hat in einem Dorf bei Czernowitz die Schwester ihres Vaters zu uns ins Haus geholt mit ihrer Familie und die Schwester hatte sieben Söhne und eine Tochter und auf einmal waren diese ganzen Familienmitglieder bei uns in der Wohnung, lagen auf dem Boden auf Matratzen herum. Mir kam es ganz ganz komisch vor; Von den Verwandeten sind dann eine ganze Menge nach Südamerika ausgewandert, aber bald schon kam der Krieg und im Herbst 1941 der Befehl: alle Juden müssen ins Ghetto. Also haben wir die Wohnung v erlassen, ich weiß nicht mehr, ob wir zu Fuß gegangen sind oder mit Lastwagen in dieses Ghetto gebracht wurden. Man muss sich vorstellen, wie dieses Ghetto ausgesehen hat. Ghetto bedeutet einen bestimmten Bezirk, in Venedig gab es den Stadtteil Ghetta, dort haben die Juden gelebt, die auch von der restlichen Bevölkerung separiert lebten und nur zu bestimmten Zeiten rein und raus durften.

Das Ghetto von Czernowitz war auf auf einer langen Straße im unteren Bereich der Stadt. In der Mitte der Mitte der Straße wurde ein  großer Zaun gezogen und alle Menschen, die jüdischen Glaubens waren, mussten in die eine Seite der Häuser ziehen und alle, die jetzt nicht jüdisch waren mussten aus ihren Wohnungen raus und auf die andere Seite der Straße ziehen. Das heißt, man trennte die Religionen, Juden auf der einen Seite, nicht Juden auf der anderen Seite. Dadurch hat man die Juden konzentriert zusammengehalten. Man konnte sie aus diesem Ghetto hinaus bringen, es gab die sogenannte Ghettopolizei und die musste jeden Tag so und so viele jüdische Menschen an die Deutschen ausliefern. Die Züge wurden mit jüdischen Menschen vollgeladen und irgendwo hingebracht wo wir gehört haben, dass sie dort ermordet werden oder verhungern, es gab unterschiedliche Berichte, ich habe davon natürlich erst später erfahren. Meine Familie hatte große Angst, auch irgendwann abtransportiert zu werden.

Im Gedächtnis geblieben ist mir der furchtbare Gestank im Ghetto. Ob es Matratzen gab? Vielleicht! Auf alle Fälle schliefen die Menschen auch auf dem Fußboden, und Toiletten, ach, ich weiß nicht für wieviele Menschen „eine Toilette“ benutzten, der Gestank dieser menschlichen Exkremente, der hängt noch immer in meiner Nase, das muss man sich überlegen, ich war ein Kind und heute bin ich, ich würde sagen, ein Grufti, wenn man das so bezeichnen kann mit meinen 84 Jahren. Es verfolgt mich noch so, dass ich bis heute Probleme habe, auf Toiletten zu gehen, wo ein schlechter Geruch ist. Das erinnert mich sofort an meine Kindheit.

Es gab kaum etwas zu essen, die Panik war groß. Kinder, die miteinander spielen, gab es kaum. Man hatte immer Angst, dass Schergen kommen, die Kinder schlagen. Es war eine sehr traurige Zeit. Die Erinnerungen sind sehr bruchstückhaft, weil ich sehr klein war.

Man merkt, dass die Eindrücke während dieser Jahre mich das ganze Leben verfolgt haben – immer wenn ich erzähle, kommen sie wieder und sind präsent. Meine Mutter, mein Großvater und ich sind aus Czenowitz weg. Familienmitglieder befanden sich in Rumänien. Meine Mutter hatte es geschafft, falsche polnische Papiere zu kaufen. Als ich vor zwei oder drei Jahren das erste Mal  nach 71 Jahren wieder in Czernowitz war, habe ich erfahren, wie das ging: es gab zwei Konsulen, die gegen Geld falsche Pässe ausgestellt haben. Wir hatten also polnische Papiere. Wir kamen eines Tages in die Viehwaggons, da hat man festgestellt, dass drei Leute mit polnischen Pässen in den Waggons. Man hat Großvater, Mutter und mich herausgeholt – gesagt, ihr seid ja keine Juden, wir müssen das kontrollieren. Dann kamen Nazis und sagten: Der Zug muss abfahren! Und wir standen draußen. Wir, die jetzt am Bahnsteig standen, wurden ins Ghetto zurückgebracht. Zwei Tage später wurden wir von den Sowjets befreit. Das war ein großes Glück.

Meine Familie sprach übrigens  Deutsch. Der Kommandant des Ghettos war ein rumänischer Offizier. Meine Mutter hat gesagt: Wir sind hier, meine alte Mutter mein Sohn und ich: Sie fragte: Wir sind doch deutschsprachig. Warum können wir nicht raus? Er daraufhin: Da können wir drüber reden, wenn sie mir zu Verfügung stehen würden. Meine Mutter wusste sofort, was Sache ist, was der will. Sie fragte ihn: Sind Sie verheiratet? Ja. Haben Sie Frau und Kinder in Rumänien? Ja. Stellen Sie sich mal vor, irgendein Mann würde Ihrer Frau solch einen Antrag machen. Da explodierte der Offizier vor Wut und sagte: Mach das du raus kommst, Du freche Jüdin! Aber er hat sich ihre Worte wohl gemerkt. Er hat uns längere Zeit vor den Transporten geschont.

Als Czernowitz befreit wurde, sind wir nach Rumänien zu Familienmitgliedern geflüchtet, durch Joint, eine amerikanische Gesellschaft, von Juden gegründet, sind wir durch halb Europa geschwirrt, bevor wir 1944 nach der Befreiung von Czernowitz in die Stadt zurückgegangen sind. Weil wir die Hoffnung hatten, dass mein Vater zurückkommen würde – um dann wieder zusammenzuleben als Familie. Mein Vater war jedoch tot, und meine Großmutter war ermordet worden.

Auschwitz und Max Rubin

Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit. Auschwitz war eine Hölle auf Erden. In Czernowitz war meine Mutter damals tätig in der jüdischen Gemeinde zu dieser Zeit. Dorthin kamen auch Menschen, die aus Auschwitz befreit worden waren, auf der Durchreise. Anfang Februar stand in der jüdischen Gemeinde in sowjetischer Uniform, und sprach sie auf Deutsch an: Sie war erstaunt. Wieso sprechen Sie Deutsch?, fragte sie. Er sagte: Ich komme aus Düsseldorf  und heiße Max Rubin. Meine Mutter stutzte: Schließlich hießen wir Rubinstein und ihr man Max! Meine Mutter hoffte noch, dass man Vater zurückkehren würde.

Max Rubin 1933  war vor den Nazis aus Düsseldorf geflohen. Über Belgien und schließlich nach Amsterdam. Die Belgier betrachteten alle Deutschen als Feinde, auch Juden. In Holland war das nicht der Fall, er wurde versteckt von Freunden, wurde aber verraten. Er kam in verschiedene Lager, nach Bergen-Belsen und schließlich nach Auschwitz, das er auf wundersame Weise überlebte – unter einem Kohlenberg versteckt. Im April 1945 ging Rubin zurück nach Amsterdam – bevor er ging, sagte er meiner Mutter, dass er Junggeselle sei. Wenn er jemals heiraten würde, dann nur eine Frau wie Sie, sagte er zum Abschied. Er war ein wandelndes Skelett, als er aus Auschwitz kam, muss man wissen. Als die Menschen befreit wurden, gaben die Befreier ihm viel zu essen –  viele Menschen haben das nicht verkraftet und sind gestorben. Max Rubin war ein kräftiger Mann von 100 Kilo, der auf 30 Kilo abgemagert war. Meine Mutter hatte ihn wieder aufgepäppelt. Als wir erfuhren, dass mein Vater ums Leben gekommen war, und die Sowjets uns Juden auch nicht gut behandelten, hat meine Mutter Max Rubin gefragt, ob er uns helfen könne – ob wir nach Holland kommen könnten. So sind wir nach Amsterdam gekommen. Meine Mutter ist nicht aus Liebe dorthin gegangen, sondern aus der Not. Aber sie haben sich irgendwann geheiratet – und lieben gelernt. Max Rubin hat mich behandelt wie ein eigenes Kind – ich habe ihm alles zu verdanken.

Weltbürger und Mensch

Ich war zehn, war kaum in der Schule gewesen, und musste erstmal in den Kindergarten. Nach drei Monaten konnte ich fließend Holländisch. Dann kam ich in die Grundschule. Ich sage heute: Ich bin ein rumänisch-holländisch-Deutscher, der sich als Europäer versteht, als Weltbürger, aber in erster Linie als Mensch. So lange ich lebe, hoffe ich, dass ich Mensch sein kann – und gehört werde, wie jetzt von Euch. Seit 1956 lebe ich in Düsseldorf, habe eine Familie gegründet hat. Ich habe drei Kinder, fünf Enkelkinder und ein Urenkel. Ich bin Bürger dieses Landes, ob ich Jude, Moslem, Christ oder Katholik bin, ist egal. Ich sage: Wenn wir eine gemeinsame Zukunft haben wollen, werden wir sie auch haben.

 

Erinnerungen an die Kindheit

Es gibt Erinnerungen aus der Vorkriegszeit, die Zeit zwischen 1936 und 1938, da war ich zwei Jahre alt, wir waren  in einem Park in Czernowitz, wo meine Mutter immer mit mir spazieren gegangen ist, und da gab es viele Mütter mit ihren Kindern. Es gibt Fotos davon, auf einem Foto spiele ich mit einem kleinen Mädchen – und diese Frau habe ich dann in den 50er Jahren in Holland wiedergesehen und auch 2018, als ich das erste Mal wieder nach Czernowitz gefahren bin. Das hat man mir als Überraschung gemacht.  Wir haben viele Kindheitserinnerungen ausgetauscht, das war wunderbar. Wobei die Erinnerungen nicht alle so wunderbar waren: Nicht jüdische Kinder haben uns, als ich fünf Jahre alt war, schon antisemitisch beschimpft haben, „Ihr Scheiß-Juden” in Rumänisch, nicht in Deutsch, ich habe das nie verstanden. In Amsterdam spielte Antisemitsmus dann keine Rolle mehr, dass wir Juden waren, dort hatte ich mehr nichtjüdische als jüdische Freunde.

Vertrauen und Verzeihen

Ich muss dazu etwas ausholen. Es war kein leichter Entschluss, Ende 1956, da war ich 20 Jahre alt und habe ich 10 Jahre in Amsterdam gelebt, nach Deutschland zukommen, ins Land der Täter. 1956 war Deutschland noch ziemlich zerstört. Düsseldorf hatte unheimlich viele Lücken von den Bomben und ich war mir nie sicher, ob der Mensch, der auf der Straße an mir vorbeigeht, ein Mörder war, Täter oder Täterin. Wo gehe ich hin, kann ich das mit meinem Gewissen düberhaupt vereinbaren? Ich wohtne in Holland. Es gab einen großen Hass auf die Deutschen. Meine Freunde in Holland haben mich nicht verstanden. Wie kriegst du dieses Ganze unter einen Hut?Hass zerstört!, habe ich mir gesagt. Ich kann die Menschen nicht hassen. Mir persönlich haben sie nichts getan.

Mein gottseliger Vater Max Rubin hatte wunderbare Freunde vor dem Krieg, die Ihn dazu veranlasst haben, nach Düsseldorf zurückzukommen – obwohl er in Auschwitz war. Wir haben klein angefangen, er hatte ein Gewerbe, in dem Damengürtel produziert wurden. Der Hausmeister dort hatte einen Sohn, der ein Jahr älter war als ich, einen Sohn und der sagte mir: Pass mal auf, ob du Jude bist oder nicht Jude bist spielt keine Rolle, wir habe eine Kkatholische Jugendgruppe und da sind ungefähr  25 oder 30 Jjunge Leute, komm doch mal mit, dann stelle ich dich vor. Mit dieser Katholischen Jugendgruppe war es wunderbar. Es spielte keine Rolle, ich bin in die Kirche gegangen,  mit den jungen Leuten bin nach Korsika gefahren. Es war wirklich eine große Freundschaft. Da habe ich gesehen: Die können doch genauso wenig dafür, was geschehen ist wie ich. Sie sind nicht  die Täter, sondern die Kinder der Täter und ich bin das Kind von Opfern.

Aber kam irgendwann der Gedanke, die sind ja auch Opfer, die Eltern sind verführt worden von dem Regime, wo viele unter Umständen gesagt haben: Wir mussten mitmachen aber wir wollten nicht freiwillig und wer sich dagegen gestellt hat, hat unter Umständen Glück gehabt, das er nicht selber an die Wand gestellt wurde. Oder aber, dass er zeitlang aus der Not eine Tugend gemacht hat und später gesagt hat: Wir wollten das alles nicht, es tut uns Leid. Da kam ein Vertrauen zu diesen jungen Menschen,  und dadurch ist mein Vertrauen in das Leben in Deutschland gewachsen. Wichtig war auch die jüdische Gemeinde Düsseldorf, wenn es die nicht gegeben, wenn ich dort nicht gearbeitet hätte, Jugendarbeit, dann hätte das ganz vielleicht ein ganz anderen Prozess benötigt. Durch diese ganze Tätigkeit im Laufe der Jahrzehnte ist ein sehr großes Vertrauen gewachsen zu den Nachgeborenen.

Antisemitismus heute

Wenn ich heute jetzt die Situation sehe wie der Antisemitismus in Deutschland sehr, sehr, zunimmt, wie in Köpfen von vielen Menschen auf einmal wieder ein Bild entsteht, das dem gleicht, das die Nationalsozialisten in den Köpfen hineingesetzt haben, mache ich mir große Sorgen, denn dieses Bild ist ein Spiegelbild für Unmenschlichkeit  gegenüber anderen Menschen. Und daher sehe ich mich als Teil der Gesellschaft, der gegen Unmenschlichkeit anzugehen hat.

In der Ausstellung in der Gedenkstätte in Düsseldorf könnt ihr sehen, wie viel Zuschriften die jüdische Gemeinschaft Düsseldorf und jüdische Menschen bekommen von Menschen, die sagen: Ihr seid schlimmer als Ungeziefer, das man euch nicht vergast hat ist ein großer Fehler.  Im Internet gibt es Tausende Seiten avoller Antisemitismus und Antijudaismus , Aufrufe zu Gewalt gegen Juden. Nimm Halle. Guckt mal in die Statistiken, es gibt eine enorme Zunahme von Straftaten mit antisemitischem Hintergrund.

Wir sind Deutsche, wir sind Bürger hier im Lande, wir sind genauso wie andere Menschen. Wir haben das Recht, unsere Religion frei auszuüben, aber wir haben die Pflicht mit einander menschlich umzugehen. Die Unmenschlichkeit merke ich überall, es gibt auch viele, die es im versteckten machen, am Stammtisch. Wenn mir einer sagt: Du bist Jude, du siehst aber gar nicht so aus, da frage ich mich: was ist in den Köpfen? Was verbinden sie mit Juden? Ich bin Mensch!

Ich merke es vor allen in Schulen. Die Lehrkräfte sind nicht alle darauf vorbereitet, den Extremismus zu bekämpfen und ihn als Krankheit zu betrachten, die man heilen muss. In Diskussionen merke ich oft, wie Extremismus in der Rhetorik mittransportiert wird. Was wir in der jüdischen Gemeinde Düsseldorf merken ist, dass viele der Kinder, die auf öffentliche Schulen gehen, sich scheuen zu sagen: wir sind Juden. Da die Mehrzahl der jüdischen Menschen heute aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, sagen die Kinder: Wir sind Ukrainer oder wir sind Usbeken. In der Gemeinde erzählen viele, wie sie gemobbt werden. Manchmal müssen Eltern ihre Kinder aus den jeweiligen Schulen nehmen, weil die Kinder leiden. Das ist eine der Entwicklungen. Die andere Entwicklung ist, das wir oft hören, Scheiß-Jude. Das ist nicht mehr strafbar. Früher gab es ja die Möglichkeit das anzuzeigen. Sehr, sehr oft wird so etwas als Kavaliersdelikt angesehen, d.h.  die Messlatte des Anstandes hat sich sehr gesenkt. Und wenn es Menschen schlecht geht, sind auch immer Minderheiten in Schuld. Und wie kann ich einen jüdischen Menschen schlimmer treffen, als wenn ich ihn beschimpfe wegen seines Judentums? Und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und wenn man die dann anspricht, wie oft die nichtjüdischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Gemeinde werden von Bekannten gefragt: Wie kannst Du denn bei den Juden arbeiten?  Es schreit zum Himmel,  wie Menschen andere Menschen diskriminieren und verunglimpfen bis heute.

Das Unangenehmste antisemitische Erlebnis hatte ich, als ich in den 70er Jahren geschäftlich unterwegs war. Wir hatten eine Damengürtelfabrik und ich reiste durch Deutschland. Ich reiste nach Wuppertal, zu einer großen Textil- oder Bekleidungsfabrik, den Namen möchte ich nicht nennen, aber der ist in meinem Kopf gespeichert, und sagte: ,,Ich habe einen Termin, mein Name ist Herbert Rubinstein. ,,Herbert Rubinstein? Sind Sie Jude?‘‘ ‚,Ja?‘‘ ,,Bei Juden kaufen wir nicht.‘‘ Dann habe ich meine Koffer eingepackt und habe gesagt: ,,Ihnen verkaufe ich auch nichts‘‘ und bin gegangen. Das heißt, ganz einfach, das war eine direkte Brüskierung, das waren Nazis geblieben. Das war eine der schlimmsten Erfahrungen, die ich gemacht habe. Natürlich sind später andere Erfahrungen dazugekommen, aber da war ich besser gewappnet. Damals war das für mich ganz frisch. Stell dir mal vor , du bist in Deutschland, du hast Dich entschieden, nach Deutschland zu kommen, du hast entschieden Deutscher zu werden und du wirst nicht gleichbehandelt, sondern du bist immer noch der Jude, der Fremde, der, der nicht zu unserer Gesellschaft gehört. Eine ganz andere Sache, die mich immer auch wieder sehr, sehr belastet, sind die Worte: ,,Unsere jüdischen Mitbürger.‘‘ Wir sind keine jüdischen Mitbürger. Wir sind Deutsche. Dass wir Juden sind oder Muslime, oder was auch immer, warum wird das so betont? Warum werden wir immer so gekennzeichnet mit einem Kainsmal? Weshalb? Weshalb geht das nicht aus den Köpfen der Menschen raus?

Deutschland verlassen?

Die Überlegung ist tagtäglich vorhanden, aber wir leben in der deutschen Sprache, das ist an sich unser Kulturkreis. Israel ist ein Staat, der wie jeder andere Staat auf der Welt seine Eigenheiten hat. Die Mehrheit der Menschen, die in Israel wohnen, sind wohl jüdischen Glaubens. Für mich ist es ist vielleicht ein geistiges Zuhause, aber nicht mein physisches Zuhause. Ob wir überlegt haben nach Israel zu gehen? Ja ganz eindeutig,  schon weil meine Frau in Tel Aviv geboren, als der Staat Israel 1948 entstand, hat sie das miterlebt, sie war 6 Jahre und hat auf der Straße getanzt, d.h. sie hat zwei Herzen in ihrer Brust. Wenn die Welt nicht zusammenbricht, werden wir nicht weggehen aus Deutschland. Wir sind Düsseldorfer.

 

Rechtsextremismus

Ich halte nichts von rechtsextremen Parteien oder von rechten Parteien. Ich halte auch nicht viel von linksextremen Parteien und linken Parteien, für mich gilt einfach die Mitte der Gesellschaft. Die Demokratie, das ist das Beste was uns jemals geschehen konnte, und wir alle leben heute dank dieser Menschen, die sich für diese Demokratie einsetzen, so wie wir heute leben. Extremismus kann nie eine Lösung sein.

Was wir brauchen, ist die Akzeptanz gegenseitig  voneinander lernen, lernen ist wichtig. Wenn man lernt, weiß man mehr als wenn man nicht lernt. Zum Beispiel lernt man, wie viel Schönes jede der Religionen hat, aber auch wie viele Hässliches, denn Religionen sind zum Teil auch von Menschen gemacht, die nach Macht streben und Ideologien verbreiten – und dieser Extremismus wird die Welt zerstören. Was mir heute sehr,  sehr zu denken gibt sind diese selbst ernannten Diktatoren in vielen Ländern dieser Welt, wo das Volk nicht die Möglichkeiten hat, die wie wir hier in Deutschland haben: freie Meinungsäußerung,  freie Religionsausübung. Ein Grundgesetz, dessen Einhaltung von der Regierung durchgesetzt wird. Aber eine heile Welt werden wir nie bekommen.

 

Kann sich der Holocaust wiederholen?

Der Holocaust, war eine Ideologie der Nationalsozialisten, um ein neues Menschenbild zu schaffen. Der Holocaust war in erster Linie  ein Mord an Juden, an Sinti und Roma, an vielen anderen Völkern.  Ob es nochmal  einen Holocaust geben kann, heißt ja, ob wieder ein Massenmord an Menschen erfolgen kann, weil sie Minderheiten sind. Ja, das kann ohne weiteres wieder erfolgen. Das hängt immer davon ab, ob die Demokratie in Europa und in der Welt genug gefestigt wird oder nicht. Das hängt davon ab, ob und wie Menschen auf die Straße gehen, wenn sie merken, die Demokratie ist in Gefahr. Ich sehe jetzt die Protestaktionen, die friedlichen Demonstrationen in Belarus gegen eine Diktatur – die Menschen möchten Freiheit, die möchten ein demokratisches Gebilde haben, wo sie leben können, in Würde, in Freiheit.

Wenn ein Bürgerkrieg  nicht friedlich verläuft und die Obrigkeit zu den Waffen greift,  dann kann es unter Umständen auch wieder einen Massenmord geben, das ist aber nicht verbunden mit dem Judentum, sondern mit Entwicklungen der Gesellschaft.

Vorurteile der Nazis gegen Bildung

Die Nationalsozialisten haben das eigene Denken, die Zivilcourage, das Auflehnen gegen das Regime unterbunden. Und die Juden galten in den Ressentiments immer als diejenigen, die angeblich die Welt regieren. Wenn man die Geschichten von den Weisen von Zion nimmt, die ganzen Behauptungen, wenn man heute sieht, was den Kindern in Schulen in den arabischen Ländern beigebracht wird, dann wir überall das Bild der reichen, mächtigen Juden verbreitet, obwohl es überhaupt nicht stimmt.

Aber es stimmt schon, dass wir als jüdische Menschen, ein Bestreben haben und ich verallgemeinere jetzt, denn wir sind genauso, wie die Durchschnittsgesellschaft, dass wir sagen, es ist unheimlich wichtig zu lernen, es ist unheimlich wichtig sich zu bilden, es ist unheimlich wichtig das Materielle zu sehen, dass man benötigt. Aber es steht nicht an erster Stelle, denn wenn irgendetwas geschieht – und das kann tagtäglich in der Welt  passieren, wir sehen die Fluchtbewegungen von Menschen in der ganzen Welt – kannst du unter Umständen nur mitnehmen, was du zwischen den Ohren hast.  Das sehen heute auf Lampedusa, wir sehen es in den niedergebrannten Camps, wo Flüchtlinge künstlich eingepfercht werden, obwohl die Weltgemeinschaft ganz anders reagieren könnte, wir sehen, dass das Judentum, ein Volk ist, das seit 3300 Jahren über die Erde zieht und immer wieder verfolgt wird und feststellt: wichtig ist Bildung, um  Diskriminierung und Verfolgung zu verhindern.

 

Hoffnung auf eine tolerantere Welt

Die Hoffnung ist, dass die Wertesuche vorhanden ist. Die Religionen haben vielen Menschen nicht das gegeben, was sie suchten. Was mir Hoffnung gibt ist, dass wir heute feststellen können, dass weltweit Länder, wo eine starke Demokratie besteht, den Menschen Erfüllung geben und trotzdem noch nicht genug, denn hinzu kommt die Wertesuche. Und die Wertesuche wird hoffentlich in eine Richtung gehen, die ein menschliches Denken erzeugen wird, wo die Religionen und die Nationalitäten eine Rolle spielen, weil es sie gibt, aber nicht der Mittelpunkt sind. In eine Zukunft zu sehen ist schwierig. Wir haben ein symbolische Aussage im Judentum. Da drin steht, dass im Jahre 6000 der Zeitrechnung der Messias kommen wird und das so viele Sachen, die wir heute als  Probleme haben, dann verschwinden werden. Wir schreiben bald. Am Freitagabend fängt das jüdische Jahr 5781 an, also sind wir 229 Jahre von diesem Datum entfernt, was uns verheißen wurde. Daher bin ich optimistisch, auch wenn wir es alle hier nicht erleben werden, dass unsere Kindeskinder vielleicht eine bessere Welt haben werden.