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Biografie von Marina Sagsaganska

Von Bilal, Duygu, Alex und David

„Meine Mutter ging raus, um uns etwas zu essen zu besorgen. Ich weiß noch genau, wie ich am Fenster stand, hinausblickte  und dachte, dass sie gleich wiederkommen würde und wir nicht mehr hungern müssten. Doch sie kam nicht zurück. Ich war fünf, meine Schwester 15,  wir waren mitten im Krieg, in einem fremden Haus, ohne Vater und ohne Mutter.“

Als sie die Geschichte in unserer Schule zum ersten Mal erzählt, weint Marina. Lange hat sie überhaupt nicht erzählt, was ihr und ihrer Familie passiert ist, weil es ihr zu schwer fiel. Seit ein paar Jahren berichtet sie Jugendlichen, wie sie den Holocaust überlebt hat, aber manche Erinnerungen sind zu schwer.

Marina Saksaganska wurde am 25. August 1936 in Dnepropetrowsk in der Ukraine geboren. Ihre Eltern waren Ärzte, beide machten  ihren Abschluss am medizinischen Institut in Dnepropetrowsk. Ihr Vater war der Leiter eines Dorfkrankenhauses, ihre Mutter war dort Ärztin. Gemeinsam mit ihrer Schwester und ihren Eltern wohnte sie in der Stadt, der Familie ging es gut. „Leider wurden unsere Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft zerstört, als am 22. Juni 1941 in der Stadt der Zweite Weltkrieg ausbrach.“

Marina als junges Mädchen. Bild: privat
junge Marina. Bild: privat

Viele Geschichten aus dem Krieg kennt Marina nur aus Erzählungen.  Einige Wochen, bevor die deutschen Truppen kamen, sei den Kindern in der Schule erklärt worden, wie man Gräben aushebt.  Die Deutschen seien viel schneller vorgedrungen als erwartet.

Nicht alle seien rechtzeitig evakuiert worden – „unsere Familie sollte nach Stawropol im Nordkaukasus evakuiert werden, meine Eltern sollten dort wohl als Ärzte arbeiten“. An viele Details kann Marina sich nicht mehr erinnern, auch nicht daran, wie es ihr damals ging. Sie weiß aber noch, wie sie nur mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken die Wohnung verlassen habe.

Die ausgebrannten Überreste der Nationalen Bergbauuniversität Dnipropetrowsk. Bild: NGU / Gnesener1900 / Wikimedia Commons / CC-BY-SA-3.0

Am Bahnhof hatten sich viele Flüchtlinge versammelt. „Das Gleis war voller Menschen.“

Als sie mit dem Zug in Kislovodsk ankamen, sei der Vater zur Roten Armee eingezogen worden. Die Mutter blieb mit Marina und ihrer Schwester zurück, arbeiten konnte sie nicht mehr, weil die Schwester schwer krank wurde. Auch von der Front kamen beunruhigende Nachrichten. Dnepropetrowsk, ihre Heimatstadt, wurde am 25. August 1941 von der deutschen Wehrmacht eingenommen, die meisten der dort noch lebenden Menschen jüdischer Abstammung wurden deportiert und ermordet.

Dass hätten viele Menschen in der Ukraine nicht glauben können. Die Deutschen hätten, vor allem unter den Ärzten, einen sehr guten Ruf gehabt: „Deutschland galt als Land der Kultur, Bildung und Wissenschaft. Viele behaupteten, dass die Warnungen von Konzentrationslagern und  der Vernichtung von Juden sowjetische Propaganda sei. Es konnte niemand glauben, dass die Deutschen so grausam sein könnten.“

Um Kislovodsk verlassen zu können, gingen Marina und ihre Schwester mit ihrer Mutter täglich zum Bahnhof, um einen Platz zu bekommen. „Einmal verlor meine Mutter mich am Bahnhof und fand mich erst nachts wieder.“

Eines Tages fuhr ein voller Zug ab, kam aber nur eine Station weit: Die Deutschen hatten die Stadt besetzt und zwangen die Flüchtlinge, zurückzukehren.

Die Deutschen forderten alle Menschen in der Stadt auf, sich registrieren zu lassen. Die Juden wurden extra ausgewiesen und mussten einen gelben Stern tragen. „Meine Mutter ahnte, dass es unseren Tod bedeuten könnte, wenn wir uns registrieren lassen.“ Fortan lebten Mutter und Töchter illegal in der Stadt ; immer in der Gefahr, verhaftet zu werden, wenn ihre Mutter kontrolliert würde.

Die meiste Zeit verbrachten sie in einer leer stehenden Wohnung. An einigen Tagen musste die Mutter raus, um Lebensmittel aufzutreiben. Die Tage glichen sich. Bis ihre Mutter vom Essen kaufen einfach nicht zurückkehrte. Später erfuhr Marina, dass sie bei einer Razzia verhaftet und höchstwahrscheinlich erschossen worden war.

Mit ihrer Schwester habe sie in der Wohnung gesessen und nicht weiter gewusst. „Ein paar Tage passierte gar nichts. Ich kann mich nur sehr gut daran erinnern, dass ich die ganze Zeit am Fenster stand und rausgeschaut habe ob meine Mutter doch kommt, aber sie kam nicht. Es war kalt, wir waren hungrig.“

Nachbarn hätten sie nach ein paar Tagen gewarnt: Sie müssten weg, man wissen, dass sie Juden seien. Die ältere Schwester hatte inzwischen die Aufgaben der Mutter übernommen: Sie war in die Stadt gegangen, um irgendwie essen zu besorgen. Zufällig traf die Schwester dort auf dem Markt einen Onkel des Vaters, Victor Zotkin. Die Zotkins nahmen die Mädchen bei sich auf und sorgten für sie – obwohl sie sich damit in große Gefahr begaben. Tagsüber versteckten sich Marina und ihre Schwester in einem Schuppen. Es habe auch bei den Zotkins Razzien gegeben. Einmal fragte ein SS-Mann die Familie, ob sie Fremde gesehen hätten. Sie verneinten. Wie gefährlich es in ihrem Versteck war, erfuhr das Mädchen erst nach dem Krieg.

Eines abends klopfte es an der Tür – an der Schwelle stand ein großer sehr dünner Mann in Uniform – Marinas Vater.  „Er sagte uns, dass er kaum noch Hoffnung hatte, uns wiederzusehen.“

Marinas Vater. Bild: privat

Die Freude war groß, hielt aber nur kurz. Der Vater hatte keine Zeit, auf die Töchter aufzupassen. Die Schwestern kamen zu einer Tante in die Nähe von Moskau. Die Zeit hat Marina nicht in guter Erinnerung. Ihre Schwester habe schon bald Deutsch studiert, sie selbst sei oft allein gewesen. Die Tante habe im Schichtdienst gearbeitet – und hatte keine Zeit, Marina in der Schule anzumelden. „Ich habe mir in der Zeit selbst beigebracht, zu lesen“, erzählt Marina. „In die Schule gekommen bin ich erst mit neun, da kam ich in ein Waisenhaus. Mein Vater hat die ganze Zeit gearbeitet und hatte keine Zeit für uns, die Tanten konnten sich auch nicht richtig um mich kümmern.“

Die Zeit im Kinderheim sei sehr lehrreich gewesen. „Wir mussten viel arbeiten, haben Kartoffeln und Gemüse angebaut. Alle haben davon geträumt, möglichst bald nach Hause zurückzukehren. Aber wir waren sicher und hatten keinen Hunger.“

Der Vater arbeitete als Arzt lange für das Militär und lebte in einem Wohnheim – ein Teil der eigenen, zerstörten Wohnung wurde ihm erst einige Jahre nach dem Krieg zurückgegeben. Schließlich sei sie zu ihrem Vater nach Dnepropetrowsk zurückgekehrt.

Über die Mutter habe der Vater nie geredet. Im Rückblick erinnert sich Marina, dass er immer traurig gewesen sei. Er habe sich nicht verzeihen können, dass er die Mutter nicht habe beschützen können. Mit 38 war er Witwer geworden, die Mutter mit 36 ermordet worden.

Marina wurde eine sehr gute Schülerin. Sie studierte am Hütteninstitut in Dnepropetrowsk und wurde Ingenieurin. 1960 heiratete sie, ein Jahr später wurde ihr Sohn geboren, der mit seiner Familie und zwei Kindern in Litauen lebt.

Als Kind, sagt Marina, habe sie zwei Träume gehabt. „Ich wollte Fahrrad fahren und Klavier spielen lernen. Der Krieg hat mir diese Träume zerstört.“ Bis heute denkt Marina fast täglich an die Familie Zotkin. „Nur dank ihrer Hilfe haben meine Schwester und ich überlebt. Sie haben uns gezeigt, dass es Zivilcourage braucht.“

Nach Deutschland zog Marina 1997 mit ihrem Mann auch, weil die medizinische Versorgung hier besser ist als in der Ukraine. Sie sagt, sie fühle sich wohl hier. Hass gegen die Deutschen hege sie nicht. „Wir leben heute in Frieden. Das sollten wir schätzen und dafür sorgen, dass es so bleibt.“

Von Bilal, Duygu, Alex und David

Marina und ihr Mann. Bild: privat
Marina am Huetteninstitut. Bild: privat