Viele Geschichten aus dem Krieg kennt Marina nur aus Erzählungen. Einige Wochen, bevor die deutschen Truppen kamen, sei den Kindern in der Schule erklärt worden, wie man Gräben aushebt. Die Deutschen seien viel schneller vorgedrungen als erwartet.
Nicht alle seien rechtzeitig evakuiert worden – „unsere Familie sollte nach Stawropol im Nordkaukasus evakuiert werden, meine Eltern sollten dort wohl als Ärzte arbeiten“. An viele Details kann Marina sich nicht mehr erinnern, auch nicht daran, wie es ihr damals ging. Sie weiß aber noch, wie sie nur mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken die Wohnung verlassen habe.
Als sie mit dem Zug in Kislovodsk ankamen, sei der Vater zur Roten Armee eingezogen worden. Die Mutter blieb mit Marina und ihrer Schwester zurück, arbeiten konnte sie nicht mehr, weil die Schwester schwer krank wurde. Auch von der Front kamen beunruhigende Nachrichten. Dnepropetrowsk, ihre Heimatstadt, wurde am 25. August 1941 von der deutschen Wehrmacht eingenommen, die meisten der dort noch lebenden Menschen jüdischer Abstammung wurden deportiert und ermordet.
Dass hätten viele Menschen in der Ukraine nicht glauben können. Die Deutschen hätten, vor allem unter den Ärzten, einen sehr guten Ruf gehabt: „Deutschland galt als Land der Kultur, Bildung und Wissenschaft. Viele behaupteten, dass die Warnungen von Konzentrationslagern und der Vernichtung von Juden sowjetische Propaganda sei. Es konnte niemand glauben, dass die Deutschen so grausam sein könnten.“
Eines Tages fuhr ein voller Zug ab, kam aber nur eine Station weit: Die Deutschen hatten die Stadt besetzt und zwangen die Flüchtlinge, zurückzukehren.
Die Deutschen forderten alle Menschen in der Stadt auf, sich registrieren zu lassen. Die Juden wurden extra ausgewiesen und mussten einen gelben Stern tragen. „Meine Mutter ahnte, dass es unseren Tod bedeuten könnte, wenn wir uns registrieren lassen.“ Fortan lebten Mutter und Töchter illegal in der Stadt ; immer in der Gefahr, verhaftet zu werden, wenn ihre Mutter kontrolliert würde.
Die meiste Zeit verbrachten sie in einer leer stehenden Wohnung. An einigen Tagen musste die Mutter raus, um Lebensmittel aufzutreiben. Die Tage glichen sich. Bis ihre Mutter vom Essen kaufen einfach nicht zurückkehrte. Später erfuhr Marina, dass sie bei einer Razzia verhaftet und höchstwahrscheinlich erschossen worden war.
Nachbarn hätten sie nach ein paar Tagen gewarnt: Sie müssten weg, man wissen, dass sie Juden seien. Die ältere Schwester hatte inzwischen die Aufgaben der Mutter übernommen: Sie war in die Stadt gegangen, um irgendwie essen zu besorgen. Zufällig traf die Schwester dort auf dem Markt einen Onkel des Vaters, Victor Zotkin. Die Zotkins nahmen die Mädchen bei sich auf und sorgten für sie – obwohl sie sich damit in große Gefahr begaben. Tagsüber versteckten sich Marina und ihre Schwester in einem Schuppen. Es habe auch bei den Zotkins Razzien gegeben. Einmal fragte ein SS-Mann die Familie, ob sie Fremde gesehen hätten. Sie verneinten. Wie gefährlich es in ihrem Versteck war, erfuhr das Mädchen erst nach dem Krieg.
Die Freude war groß, hielt aber nur kurz. Der Vater hatte keine Zeit, auf die Töchter aufzupassen. Die Schwestern kamen zu einer Tante in die Nähe von Moskau. Die Zeit hat Marina nicht in guter Erinnerung. Ihre Schwester habe schon bald Deutsch studiert, sie selbst sei oft allein gewesen. Die Tante habe im Schichtdienst gearbeitet – und hatte keine Zeit, Marina in der Schule anzumelden. „Ich habe mir in der Zeit selbst beigebracht, zu lesen“, erzählt Marina. „In die Schule gekommen bin ich erst mit neun, da kam ich in ein Waisenhaus. Mein Vater hat die ganze Zeit gearbeitet und hatte keine Zeit für uns, die Tanten konnten sich auch nicht richtig um mich kümmern.“
Die Zeit im Kinderheim sei sehr lehrreich gewesen. „Wir mussten viel arbeiten, haben Kartoffeln und Gemüse angebaut. Alle haben davon geträumt, möglichst bald nach Hause zurückzukehren. Aber wir waren sicher und hatten keinen Hunger.“
Der Vater arbeitete als Arzt lange für das Militär und lebte in einem Wohnheim – ein Teil der eigenen, zerstörten Wohnung wurde ihm erst einige Jahre nach dem Krieg zurückgegeben. Schließlich sei sie zu ihrem Vater nach Dnepropetrowsk zurückgekehrt.