Kriegsausbruch und Ghetto
Mariya wurde am 22. Dezember 1930 in Borissow (Baryssau) in eine jüdische Familie geboren. Die Stadt liegt in Weißrussland, das damals der Sowjetunion zugehörig war. Mariya ist das älteste von vier Geschwistern. Ihre Eltern hatten ihr ursprünglich den Namen Mera gegeben. Außer ihr waren da Issak, ihr jüngerer Bruder, und zwei kleine Schwestern: Isabelle, die jüngste, und Genja, zwei Jahre jünger als Mariya. Mariyas Vater Jakow arbeitete als Erster Mechaniker in einer städtischen Bäckerei. Ihre Mutter Sara war Lehrerin für Fremdsprachen. Während der Vater arbeiten ging, kümmerte sie sich um den Haushalt. Mariya absolvierte ihre ersten drei Schuljahre. „Das war eine ganz normale Kindheit“, sagt sie. Als am 30. Januar 1933 Adolf Hitler in Deutschland zum Reichskanzler ernannt wurde, konnte noch niemand wissen, dass die Folgen auch sie in der Stadt Borissow treffen würden.
Mariyas Leben sollte sich schlagartig ändern, als am 22. Juni 1941 die deutsche Wehrmacht ohne Kriegserklärung die Sowjetunion überfiel. Weißrussland befand sich an der Grenze zu Polen, das bereits von den deutschen Truppen besetzt war. Kaum waren die deutschen Einheiten in Minsk, drangen sie auch schon bis nach Borissow vor, berichtet sinngemäß Mariya Neiman.
Durch die sommerlichen Straßen sieht die damals Zehnjährige nun Deutsche fahren: „Sie hatten ihre Badehosen an und spielten Harmonika.“ Mariyas Vater ist erst kurz zuvor verwundet aus dem Winterkrieg der Sowjetunion mit Finnland 1939/40 zurückgekehrt und daher nicht zur Verteidigung einberufen worden. Er versucht noch, die Familie mit einem Pferdefuhrwerk aus der Stadt zu bringen. Doch die deutschen Truppen rücken schneller vor, als der Wagen fährt.
Mariya und ihre Familie werden wenige Tage nach Kriegsausbruch in ein Ghetto am Stadtrand getrieben. Hierhin werden die mehr als 7.000 jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner Borissows noch im Sommer 1941 umgesiedelt. „Man ließ uns gar nicht unsere Sachen packen. So, wie wir da gestanden haben, trieben sie uns ins Ghetto“, berichtet Mariya Neiman. Schon die Kinder müssen Zwangsarbeiten wie Schneeräumen oder Kartoffelschälen leisten, und das ist nicht alles: „Immer wieder wurden wir misshandelt“, sagt Mariya.