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Biografie von Mariya Neiman

Von Sophie Stroh

Mariya Neiman wurde 1930 in Borissow, Weißrussland, geboren. Sie überlebte mit ihrer Schwester das Ghetto von Borissow, wo die Deutschen grausam mordeten. Später versteckten Nonnen die beiden Schwestern in einem christlichen Kinderheim.

Autorin Sophie Stroh berichtet unter anderem, wie die Holocaust-Überlebende als Kind ihre Familie auf der Flucht verlor. Und von Mariya Neimans Stolz auf ihren Vater, der als Partisan gegen die Deutschen kämpfte.

Mariya (rechts) und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Genja. Bild: privat
Kriegsausbruch und Ghetto

Mariya wurde am 22. Dezember 1930 in Borissow (Baryssau) in eine jüdische Familie geboren. Die Stadt liegt in Weißrussland, das damals der Sowjet­union zugehörig war. Mariya ist das älteste von vier Geschwistern. Ihre Eltern hatten ihr ursprünglich den Namen Mera gegeben. Außer ihr waren da Issak, ihr jüngerer Bruder, und zwei kleine Schwestern: ­Isabelle, die jüngste, und Genja, zwei Jahre jünger als Mariya. Mariyas Vater Jakow arbeitete als Erster Mechaniker in einer städtischen Bäckerei. Ihre Mutter Sara war Lehrerin für Fremdsprachen. Während der Vater arbeiten ging, kümmerte sie sich um den Haushalt. Mariya absolvierte ihre ersten drei Schuljahre. „Das war eine ganz normale Kindheit“, sagt sie. Als am 30. Januar 1933 Adolf Hitler in Deutschland zum Reichskanzler ernannt wurde, konnte noch niemand wissen, dass die Folgen auch sie in der Stadt Borissow treffen würden.

Mariyas Leben sollte sich schlagartig ändern, als am 22. Juni 1941 die deutsche Wehrmacht ohne Kriegs­erklärung die Sowjetunion überfiel. Weißrussland befand sich an der Grenze zu Polen, das bereits von den deutschen Truppen besetzt war. Kaum waren die deutschen Einheiten in Minsk, drangen sie auch schon bis nach Borissow vor, berichtet sinngemäß Mariya Neiman.

Durch die sommerlichen Straßen sieht die damals Zehnjährige nun Deutsche fahren: „Sie hatten ihre Badehosen an und spielten Harmonika.“ Mariyas Vater ist erst kurz zuvor verwundet aus dem Winterkrieg der Sowjetunion mit Finnland 1939/40 zurückgekehrt und daher nicht zur Verteidigung einberufen worden. Er versucht noch, die Familie mit einem Pferdefuhrwerk aus der Stadt zu bringen. Doch die deutschen Truppen rücken schneller vor, als der Wagen fährt.

Mariya und ihre Familie werden wenige Tage nach Kriegsausbruch in ein Ghetto am Stadtrand getrieben. Hierhin werden die mehr als 7.000 jüdischen Ein­wohnerinnen und Einwohner Borissows noch im Sommer 1941 umgesiedelt. „Man ließ uns gar nicht unsere Sachen packen. So, wie wir da gestanden haben, trieben sie uns ins Ghetto“, berichtet Mariya Neiman. Schon die Kinder müssen Zwangsarbeiten wie Schneeräumen oder Kartoffelschälen leisten, und das ist nicht alles: „Immer wieder wurden wir misshandelt“, sagt Mariya.

Fast genau vier Monate, nachdem Nazideutschland seinen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion begonnen hat, erschießen die Deutschen am 20. Okto­ber 1941 gemeinsam mit lettischen Hilfspolizisten mehr als 7.000 jüdische Bewohnerinnen und Bewohner des Ghettos (vgl. Arad: 186). In diesem Zusammenhang schildert Mariya die Grausamkeiten, die an ihnen verübt wurden, und deren Augenzeugin sie wurde: Es wurden zwei Menschen zeitgleich erschossen und Kinder ­zerrissen oder einfach weggeworfen, um Munition zu sparen.

Damit wird das Ghetto liquidiert. Die Kette der Ereignisse beginnt, die Mariyas Familie auseinander­reißen. Die Neimans bewohnen mit drei anderen Familien ein Haus. Im Erdgeschoss befindet sich eine Schusterei, die einen Zugang zu einem Keller hat. Jener Herbst ist sehr kalt. Draußen liegt Schnee. Eines Tages kommen die Deutschen und treiben alle Bewohner aus ihren Häusern.
Mariyas Familie befindet sich in der Schusterei. Als die Deutschen schon in Sichtweite sind, will der Vater die Familie durch den Zugang in den Keller retten. Die Mutter öffnet die Tür. Mariya, Genja und der Vater steigen hinunter. Doch die Mutter mit den zwei jüngsten Kindern kommt nicht mit. Sie schließt die Kellertür von außen und kaschiert sie – aus Sorge, die Kleinen könnten das Versteck durch ihr Weinen verraten, vermutet Mariya. Der Keller ist angefüllt mit weiteren Menschen.

Rauch dringt ein, denn das Ghetto wurde in Brand gesteckt. „Wir konnten kaum atmen“, erinnert sich Mariya Neiman. Was mit ihrer Mutter passiert ist, hat sie bis heute nicht herausfinden können. Manchmal, wenn sie erzählt, wird sie ganz still und streichelt nur noch das Taschentuch in ihrer Hand. Nach einer gefühlten Ewigkeit verlassen Mariya und Genja mit ihrem Vater den Keller. Es ist schon spät in der Nacht.

Ich hatte nur Angst!

Aus dem Keller, aus den Überresten des Ghettos, rettet der Vater seine beiden zehn- und achtjährigen Töchter.

Die Geschwister Mariya (rechts) und Genja sind die einzigen Überlebenden der sechsköpfigen Familie. Bild: privat

Sieben Medaillen trägt Mariya Neiman mit stolzer Brust an ihrem Jackett. Diese Medaillen wurden ihr keinesfalls für Kampfhandlungen verliehen. Es sind Jubiläumsmedaillen, die sie regelmäßig erhält, seit dem 50. Jahrestag der Befreiung der Republik Belarus von der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Mariya Neiman ist Überlebende des Ghettos von Borissow und Tochter eines Partisans. Die Medaille zum 70. Jubiläum des „Großen Sieges“ erhielt sie mit einer Gratulation des Präsidenten von Weiß­russland, Alexander Lukaschenko.

Die Umgebung kann Mariya durch den schweren Schleier der Angst nicht erkennen. Außerhalb der Stadt, am Fluss Beresina, finden Erschießungen statt. Mariya erinnert sich daran, dass sie an zwei Massengräbern vorbeilaufen. „Wer erschossen wurde hatte Glück“, kommentiert sie. Manche Menschen seien lebendig in die Gräben geworfen worden. Später hört sie, dass die Deutschen auf dem Rückzug Kriegsgefangene zwangen, die Gräber zu öffnen, die Leichen mit Chlor zu über­gießen und sie anzuzünden.

„Nein zum Faschismus!” – „Фашизм не пройдет!” Mariya Neimans Mitgliedsausweis eines jüdischen Vereins für ehemalige Häftlinge in Ghettos und Konzentrationslagern in Weißrussland, ausgestellt 1996. Das Dokument bestätigt, dass Mariya Neiman im Ghetto von Borissow, Gebiet Minsk, inhaftiert war. Bilder: privat

Nach der Flucht aus dem zerstörten Ghetto geht der Vater mit Mariya und Genja zu einem Flugplatz, auf dem er kurzzeitig Zwangsarbeit geleistet hat. Dort kennt er einen deutschen Soldaten, dem er vertraut. Auf dem Weg begegnen sie jedoch einem Polizisten, der sie am Flugplatz an einen anderen Deutschen ausliefert: „Mein Herr, ich habe ihnen Juden gebracht.“

Doch der unbekannte Deutsche bringt sie in einen unterirdischen Bunker und bietet ihnen heißen Tee, Zucker und Brot an. Während Mariya, ihre Schwester und der Vater sich aufwärmen, zeigt der Deutsche ihnen ein Foto seiner eigenen Familie. Er sagt, dass er sich schäme, ein Deutscher zu sein. Nach drei oder vier Tagen fliehen sie weiter. In der Nacht erreichen sie das Haus ihrer ehemaligen Nachbarin namens B.

Der Vater nimmt Abschied und sucht für sich ein anderes Versteck. Frau B. hat eine Tochter von rund 13 Jahren und einen Sohn in Mariyas Alter. Sie versteckt die Mädchen mit dem gelben Stern auf der Kleidung im Haus, als auch schon ein von den Deutschen zum „Polizisten“ ernannter ehemaliger Schuldirektor „Wind“ von der Ankunft der Flüchtlinge bekommt und nach ihnen sucht. Doch gegen ein Glas Wodka lässt er sich fürs Erste abwimmeln. Frau B. schmiedet einen Plan: Ab jetzt sollen die beiden jüdischen Kinder einen typisch ukrainischen Nachnamen tragen und sich als Kriegs­waisen aus Wolhynien ausgeben. So werden aus Mera und Genja Neiman Mariya und Elena Kasyro. Mariya wird diesen Vornamen bis heute beibehalten.

Frau B. trennt ihnen den Judenstern von der Kleidung ab und gibt den Schwestern auch neue Kleidungs­stücke. Im Schutz der Nacht machen sich alle vier Kinder auf den Weg. Die Geschwister B. begleiten Mariya und Genja bis zu den Gleisen am Ende der Stadt. Die Kinder gehen einzeln nacheinander: Im Fall einer Verhaftung sollen wenigstens die anderen überleben. „Mariya“ und „Elena“ betteln an den Haustüren um Nahrung. Damit ihre Tarngeschichte nicht auffliegt, muss die zwei Jahre jüngere Genja die Stumme spielen.

Überleben unter falscher Identität

Kurz vor Silvester 1942 klopfen die beiden Schwestern an einem Haus, in dem ein Polizist wohnt. Er bringt sie kurzerhand in das Kinderheim “Nr. 1” in Borissow, ein von Nonnen geführtes Heim für Kriegswaisen. Dort werden Mariya und Genja zum Zeichen ihrer Aufnahme von einer Nonne getauft. Den Namen des Heimleiters, Konstantin Skovorodka, wird Mariya nicht vergessen. Auf ihren Antrag hin verleiht ihm die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem am 9. November 1994 den Titel „Gerechter unter den Völkern”.

Den Kindern ist bewusst, dass sie jederzeit sterben können

Im Heim verstecken Mariya und andere ältere Kinder die jüngeren vor den Deutschen. Denn diese veranstalten Razzien, bei denen sie hin und wieder Kinder mit sich nehmen. Heute vermutet Mariya Neiman, dass an ihnen medizinische Experimente durchgeführt wurden. „Wir hatten natürlich furchtbare Angst“, erinnert sie sich. Nach der Zeit im Ghetto empfindet sie das Leben im Heim als eine Erleichterung. Auch wenn es entbehrungsreich und riskant ist. Es grassiert Typhus. Die Ansteckungsgefahr ist sehr hoch, da sie zu zweit in einem Bett schlafen.

Den Kindern ist bewusst, dass sie jederzeit sterben können. „Das war so das Gefühl, noch einen Tag ­haben wir überlebt“, sagt Mariya Neiman. Rund eineinhalb Jahre verbringt sie im Heim, bis die Rote Armee am 1. Juli 1944 die Stadt befreit. Beim Rückzug der Deutschen wird das Kinderheim von einer Bombe getroffen.

Eine Nonne rettet die Kinder in eine Kirche. Als die Rote Armee in die Stadt vorrückt, entdecken die Soldaten, dass der Glockenturm von den Deutschen vermint worden ist. So entkommen die dort Unter­geschlüpften haarscharf einer weiteren tödlichen Gefahr. „Gott hat uns beschützt“, sagt Mariya Neiman. In der Kirche erhält sie ihre zweite Taufe. Denn der Priester vollzieht diesen Ritus zum Zeichen seiner Dankbarkeit für die erneute Rettung an allen Kindern.

Mariya bleibt für die restlichen Jahre ihrer Schulzeit in dem klösterlichen Kinderheim, bis 1948. Ihre Eltern sind nicht auffindbar. Seit dem Abend bei Frau B. haben Mariya und ihre Schwester den Vater nicht mehr wiedergesehen.

Heute weiß sie, dass er mit den Partisanen kämpfte, in der Truppe von Piotr Lopatin, der nach dem Krieg die höchste staatliche Auszeichnung „Held der Sowjetunion“ bekam. Sein Deckname bei den Partisanen war „Onkel Kolja“. Von ihm erfuhr Mariya später auch, dass ihr Vater am 19. April 1944 im Zuge seines Partisanenkampfes umgekommen ist. Während des Krieges wurden schätzungsweise 33.000 Einwohner von Borissow getötet.

Mariya Neiman als Studentin. Bild: privat
Leben nach dem Krieg

Für die jugendliche Mariya geht das Leben weiter. Von 1948 bis 1952 besucht sie eine Fachhochschule für Milchindustrie in der Stadt Pinsk. „Ich wollte etwas studieren, das mit Lebensmitteln zu tun hatte“, erinnert sie sich. Sie wohnt damals in einem Heim für Studentinnen und arbeitet in einer Milchfabrik, gemeinsam mit anderen jungen Frauen. Die Mitarbeiter dort erweisen sich als „warmherzige Weißrussen“: „Sie haben immer gesagt, das arme hungrige Kind soll zuerst essen“, erinnert sich Mariya. Erst dann darf sie mit der Arbeit anfangen. Später schließt sie ein Fernstudium der Chemie ab und wird in derselben Milchfabrik die Chefin des Labors.

In der Nachkriegszeit trifft sie einen alten Schul­kameraden wieder. Er ist ebenfalls jüdisch und hat den Holocaust überlebt. Sie heiraten 1952 und bekommen zwei Töchter. Mariya behält ihren Mädchennamen ­Neiman, „aus Respekt vor den Eltern“. Der Ehemann, ein Journalist, verstirbt mit 56 Jahren. Mariya arbeitet zehn Jahre über den Renteneintritt hinaus, um ihren Kindern ein Studium zu ermöglichen. Im Jahr 2000 emigriert sie mit ihrem Enkelsohn, der eine Stelle an einer Universität bekommen hat, nach Deutschland.

In Köln ist Mariya Neiman Mitglied der Synagogen­­gemeinde. Auf die Frage, ob sie sich heute als jüdisch sieht, antwortet sie: „Gott ist einzig. Ich wurde zweimal getauft, meine Kreuze habe ich meinen Kindern geschenkt. Ich habe immer noch diese Gebetsbücher, die ich damals bekommen habe. Ich glaube an Gott.

Die Interviews führten Alina Grap, Rosa Kriegel, Lisa Steinhoff und Sophie Stroh