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Biografie von Peter Finkelgruen

Von Carina Gramer und Sümeyye Savaş

Peter Finkelgruen wurde 1942 in Schanghai geboren, wohin seine Eltern vor der NS-Verfolgung geflüchtet waren. Seine ersten Lebensjahre überlebte er im Ghetto. Nach dem Krieg emigrierte er über Prag nach Israel und schließlich nach Deutschland. Die Autorinnen Carina Gramer und Sümeyye Savaş berichten unter anderem über den Kampf des Journalisten um ein Verfahren gegen den NS-Täter, der seinen Großvater ermordet hat, sowie darüber, wo Peter Finkelgruen sich heimisch fühlt.

„Ich habe immer auf die Frage ‚Wo fühlst du dich heimisch?‘ geantwortet: Unterwegs!“, sagt Peter Finkelgruen. Der Mann mit den wachen Augen und dem schlohweißen Haar bringt zum Gespräch gerne einen alten Stadtplan von Schanghai mit, in dem die Straßen­züge seiner Kindheit eingezeichnet sind. Chinesische und europäische Kinder spielten und sprachen dort zusammen auf Chinesisch, ohne Unterschiede zu machen. Vielleicht hat diese Erfahrung eine Spur zu einem Wesenszug von Peter Finkelgruen gelegt: seiner Offenheit gegenüber der Verschiedenartigkeit von Menschen.

Peter Finkelgruen hat an vielen Orten gelebt: Schanghai, Prag und Israel. Aber nicht freiwillig.

Peters Eltern Ernestine und Hans mussten vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten fliehen. Hans war Jude. Im Jahr 1940 reiste er, gefolgt von seiner Frau, aus dem damaligen „Protektorat Böhmen und Mähren“ in Richtung Schanghai aus. Schanghai entwickelte sich mit den verzweifelten Ausreisebemühungen jüdischer Menschen nach der Reichspogromnacht zu einem letzten Zufluchtsort, weil für die Einreise kein Visum oder größeres Vermögen notwendig war. Zur Familie Finkelgruen in Prag gehörten damals noch Peters Großeltern Anna Bartel und Martin Finkelgruen. Anna war evangelisch, Martin jüdisch.

Anna hatte Martin zunächst versteckt, doch sie wurde denunziert. Als Anna später, 1946 in Prag, ihren vierjährigen Enkel Peter erstmals in ihre Arme schließt, hat sie nicht weniger als drei Konzentrations­lager über­lebt. Peters Großvater Martin Finkelgruen ist in Theresien­stadt von einem Aufseher erschlagen worden.

Die vergrößerte Kopie eines Stadtplans von Schanghai. Er zeigt die Stadt in den 1940er-Jahren, als die Straßennamen noch englisch waren. Als Peter Finkelgruen rund 50 Jahre nach seinem Wegzug wieder in seine Geburtsstadt Schanghai kam, half ihm der historische Stadtplan, sich zu orientieren.
Von Schanghai nach Prag

Peter Finkelgruen wurde am 9. März 1942 im Schang­haier Stadtteil Hongkew geboren. Die Situation der Familie verschlechterte sich erheblich, nachdem die mit Deutschland verbündeten japanischen Besatzer den Stadtteil im Februar 1943 zum Ghetto umwandelten. Bis 1941 hatten sich mindestens 18.000 Juden aus Europa nach Schanghai geflüchtet. Hongkew hatte 1,5 Quadratkilometer Fläche. Neben den Flüchtlingen lebten dort 100.000 Chinesen (vgl. Wulf; Armbr. und Hochstadt).
Peters Vater verstarb noch 1943 an den miserablen ­Lebensbedingungen im Ghetto. Peter und seine Mutter Ernestine litten große Not. Peter Finkelgruen erinnert sich noch daran, wie er mit einer der vielen Leichen auf der Straße spielte, bis man sie ihm abnahm. Es herrschten Hunger und mangelnde Hygiene. Es gab überall Ratten. Peter Finkelgruen hat bis heute Angst vor ihnen, weil sich die Umstände des Ghettos so in seinen Kopf eingebrannt haben.

Nach der Befreiung Schanghais 1946 kehrte ­Ernes­tine mit dem kleinen Peter zu ihrer Mutter Anna nach Prag zurück. Peter Finkelgruen erinnert sich daran, dass das Schiff, das sie nach Wladiwostok brachte, Smolny hieß. Er erinnert sich an den starken Dieselgeruch des Last­wagens, der sie vom Schiff zur Bahnstation brachte; daran, wie sie mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Moskau fuhren und einen Abstecher ins Lenin-­Mausoleum machten. Dann reisten sie weiter nach Prag.
Gleich am Prager Bahnhof ermahnten die beiden Frauen Peter, dass er kein Deutsch sprechen dürfe. Das schränkte ihn sehr ein, da er zwar Deutsch, Englisch und Chinesisch sprach, aber kein Tschechisch. Das Leben in Prag brachte noch eine weitere gravierende Umstellung: Ernestine musste kurz nach der Ankunft zum ersten Mal ins Krankenhaus.

Die nächsten drei Jahre lang erlebte Peter, wie seine Mutter immer wieder von zu Hause ins Krankenhaus gebracht wurde. Manchmal war sie nur für eine Woche zuHause. Da Peter durch die Lebensumstände im Ghetto sehr mager war, fütterte die Großmutter ihn durch. Sie bereitete ihm oft Wiener Schnitzel zu, das seine Lieblingsspeise wurde und heute noch ist. Damit seine Knochen stärker würden, gab es auch öfter „ein Stamperl“ Eierlikör, in den sie immer Eierschalenmehl untermischte. „Aber die Knochen sind auch gut geworden“, scherzt Peter Finkelgruen.

Dass er kein Deutsch sprechen durfte, schränkte ihn sehr ein. Er sprach Deutsch, Englisch und Chinesisch, aber kein Tschechisch

Prag war ganz anders als Schanghai. In Schanghai ­hatten großes Durcheinander und „Gewusel“ geherrscht. In Prag waren die Menschen anders. Außerdem wirkte die Stadt ruhig und ordentlich, was eine beruhigende Wirkung hatte.
Während dieser Zeit, 1948, ereignete sich in der Tschechoslowakei der „Siegreiche Februar“, ein politischer Umsturz, der die Kommunisten an die Macht brachte (vgl. Bock). Aus frisch installierten Lautsprechern schallten militärische Parolen. Mit einem Auflachen in der Stimme erzählt Peter Finkelgruen von der Propaganda in der kommunistischen Tschechoslowakei: Den Grundschülern wurde gesagt, die „amerikanischen Imperialisten“ hätten Kartoffelkäfer abgeworfen, damit die Ernte verderbe. Die Kinder wurden auf die Felder geschickt, um die Schädlinge einzusammeln.

Peter Finkelgruen (vorne rechts) nach dem Krieg in Schanghai. Bild: privat

Peter Finkelgruen erinnert sich noch gut daran, wie sie Gläser voller Käfer auf einem Regalbrett im Treppenhaus der Schule aneinanderreihten, als Leistungsbeweis der „jungen Pioniere“. Dass er Lenin in seinem Sarkophag gesehen hatte, verschaffte Peter nun zusätzlichen Respekt.

Mit seiner Mutter sprach er zum letzten Mal bei ihnen zu Hause. Peter hatte sich wahrscheinlich geprügelt und war mit verweinten Augen heim­gekommen. Ernestine sagte ihm: „Peter du musst dich wehren, wehren, wehren!“ Ihre Stimme klang ernst und sie sprach sehr eindringlich. Peter war in der Schule, als sie im Krankenhaus verstarb. Großmutter Anna erzählte ihm, was passiert war. Er war ganz benebelt und realisierte ihre Worte nur halb. Da geschah etwas, das Peter Finkelgruen als „kitschig, aber berührend“ beschreibt: Durch das offene Fenster flog ein Vogel herein. Er flog hin und her, dann flog er wieder heraus. „Das war deine Mutter. Sie hat sich nochmal von dir verabschiedet“, sagte ihm die Großmutter.

Nach Ernestines Tod bereitete Anna ihre Emigration nach Israel vor. Peters Tante lebte dort, und seine Mutter hatte den Wunsch geäußert, Peter möge zu ihr kommen. Der zweite Grund war, dass die Großmutter das kommunistische Land verlassen wollte. Peter erinnert sich an ihre Pässe. In diesen war die Gestattung zur Durchreise durch verschiedene Länder vermerkt, darunter durch Deutschland. Da die Propaganda sehr auf den damals Achtjährigen eingewirkt hatte, fragte er die Großmutter: „Durch welches Deutschland? Durch das böse Deutschland oder das gute Deutschland?“

Von Prag nach Haifa

Im Jahr 1951 traten die beiden ihre Reise an. Dabei sah Peter durch das Zugfenster, nachts, bei Vollmond, zum ersten Mal die Alpen. Sie kamen ihm riesig vor.

In Israel zogen Anna und er zu Tante und Onkel in einen Kibbuz bei Haifa; später aufs Land. Dort lebten sie in einem Einzimmerhaus und bewirtschafteten ihren Garten. Zur Vorbereitung seines Abiturs zog Peter in ein anglikanisches Internat in Jaffa bei Tel Aviv. Dort legte er ein externes Abitur der Londoner Universität ab – in Badehosen, wegen der Sommerhitze am Mittelmeer.

Während seiner Jugend in Israel hatte Peter ­Finkelgruen „vielmehr zu verdauen“ als in Prag. Er versuchte, seine Lebenswelt zu verstehen, in der es viele neu Eingewanderte, die Überlebenden der Konzentrations­lager und seine arabischen Freunde gab. Seine Idole waren die gleichen, die wahrscheinlich alle Jugendlichen seiner Zeit hatten: die amerikanischen Filmhelden.

Leben in Deutschland und vorübergehende Rückkehr nach Israel

Zum Studium der Politikwissenschaften begab sich der damals 18-jährige Peter 1959 mit Rücksicht auf seine Großmutter nach Deutschland. Die Erinnerung an seine Reise nach Europa verdeutlicht Peter ­Finkelgruen, wie die Verhältnisse sich geändert haben: Während des – vermutlich verqualmten – Fluges von Tel Aviv nach Frankfurt am Main bot die Stewardess den Fluggästen Gratis-Zigaretten an. Einer der ersten Eindrücke in Deutschland war die Fahrt auf der glatten Autobahn in die Stadt.

Während Peter Finkelgruen erst in Freiburg, dann in Köln studierte, begann er, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu reflektieren: „Es war die Zeit, in der Deutschland sehr dominiert war von Leuten, die sich in der NS-Zeit ihre Lorbeeren geholt haben“, erzählt er. Er reagierte darauf mit einer „Mischung von Empörung“ und dem „Interesse, sich damit auseinanderzusetzen“. Er kämpfte innerhalb der 68er-Studentenbewegung gegen die fehlende Aufarbeitung des Nationalsozialismus und engagierte sich auch parteipolitisch, im linken Flügel der Kölner FDP. Schließlich ergriff er den Journalistenberuf: „Irgendwann hatte ich die Vorstellung, du willst, dass die Leute lesen, was du schreibst.“

Im Jahr 1963 begann Peter Finkelgruen als Journalist beim Auslandssender Deutsche Welle zu arbeiten. In den folgenden Jahren betätigte er sich aber auch eigenständig publizistisch. Ab 1981 ging er als Korrespondent der Deutschen Welle nach Israel, wo er später als Büroleiter der Friedrich-Nauman-Stiftung arbeitete. Heute erinnern sich seine Frau und er manchmal an das „goldene Jahrzehnt“, das sie in Jerusalem verbracht haben: „Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern war auf niedrigem Level, man hatte das Gefühl, alles öffnet sich. Daran zurückzudenken, ist Nostalgie. Eine schöne Nostalgie, aber gleichzeitig ist auch ein Stück Wehmut dabei.“ Im Jahr 1988 kehrte Peter Finkelgruen nach Deutschland zurück.

– Sie sind ja oft gereist. Wie ist Ihr Menschenbild? Wie sollte ein ideales Menschenbild Ihrer Meinung nach aussehen?

– Zwischen Ideal und Wirklichkeit besteht ein großer Unterschied. Ideal ist für mich, wenn man sich die Fähigkeit erwirbt, offen zu sein, für das, was andere einem präsentieren. Das ist natürlich verbunden mit der Hoffnung, dass das umgekehrt auch so ist. Die Wirklichkeit ist, dass, und das habe ich immer wieder in meiner Biografie erfahren, Menschen sehr stark in Gruppengefühlen gefangen sind. […] Das [Nichtwissen] produziert falsche Haltungen, das produziert auch Aggressionen und Konflikte.

Suche nach Gerechtigkeit

Seine Auseinandersetzung mit der eigenen Familien­geschichte begann 1989, als er zufällig durch eine Freundin seiner Großmutter den Namen jenes SS-Mannes erfuhr, der seinen Großvater Martin erschlagen ­hatte: Anton Malloth. Mit großer Entschlossenheit und Durchhaltevermögen begab sich Peter Finkelgruen daraufhin in einen elf Jahre dauernden Kampf um die Verurteilung des Mörders. Er musste eine Skala an Registern ziehen. Um das Strafverfahren am Laufen zu halten, trieb er Zeugen auf und erzeugte öffentlichen Druck. Schließlich hatte er Erfolg: Malloth wurde 2001 von einem deutschen Gericht zu lebens­langer Haft verurteilt (vgl. Winkel). „Nicht jeder hat alle Möglichkeiten, den Rechtsstaat auch durchzusetzen“, bilanziert Peter Finkelgruen, „man muss lernen, wie der Apparat funktioniert.“ Seine Eindrücke und Erlebnisse mit einer Justiz, die den Täter schützte, und nicht seine Opfer, hielt Peter Finkelgruen in einem Buch fest.

Peter Finkelgruen heute

Über die heutige Politik in Deutschland denkt Peter Finkelgruen sehr viel Positives. Der Journalist hält Deutschland für eine „recht zuverlässige Demokratie“. Es sei keine ideale Gesellschaft, aber „ein gutes Land, jetzt“. Peter Finkelgruen hat aber nicht vor, zu den aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu schweigen.

Der Krieg in Syrien und Irak, das Leid der Flüch­tenden, treiben ihn um. In der fehlenden Aufnahmebereitschaft mancher europäischer Staaten und Teilen der deutschen Gesellschaft sieht er eine Parallele zur Situation seiner Eltern. Sein Vater war in seiner Not „von Konsulat zu Konsulat“ gerannt und hatte nirgendwo ein Einreisevisum bekommen.

Im Jahr 2015 sah Peter Finkelgruen das Foto des kleinen syrischen Jungen Aylan, dessen Leiche an einen türkischen Strand gespült wurde. Er schrieb sofort einen mahnenden Artikel. „Flüchtlings­schicksale wiederholen sich. Das ist immer das gleiche Problem“, sagt er. Als Zeitzeugen lesen seine Frau, die Schriftstellerin Gertrud Seehaus, und er, in Schulen aus einem gemeinsamen Kinderbuch.2 „Jeder soll sich der Geschichte bewusst sein“, findet Peter Finkelgruen. Nur dann könne man die Aktualität verstehen. Wenn er religiöse Traditionen wie das christliche Weihnachten oder das jüdische Pessachfest begeht, dann nicht, weil er gläubig wäre, sondern weil diese Rituale an die Geschichte erinnern.

Die Interviews führten Carina Gramer, Sarah Mfuende, Sümeyye Savaş und Lynn Tsui

Auf der Suche nach der Vergangenheit: Großvater Peter Finkelgruen und sein Enkel bereisen gemeinsam Schanghai. Bilder: privat