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Biografie von Sinowij Goldberg

Von Jean-Luc, Kübra, Karim und Hannah

Warum war sein Vater nicht da? Warum war er im Gefängnis? Warum musste die Familie die Heimatstadt Leningrad 1937 verlassen?

Wenn sich Sinowij Goldberg an seine frühe Kindheit erinnert, taucht diese Frage immer wieder auf.

Vielleicht war der Vater denunziert worden, Menschen zu verraten, sei unter dem Diktator Joseph Stalin so üblich gewesen wie in Deutschland unter Hitler, erinnert sich Sinowij Goldberg.

 

„Es ging dem KGB nicht darum, ob mein Vater wirklich staatskritisch war oder nicht. Viele Menschen wurden willkürlich verhaftet. Und da mein Vater verdächtig war, galten wir in der Folge als Staatsfeinde.“

Sowjetische Skitruppen in Leningrad während des Krieges. 1943. Bild: Russisches Staatsarchiv für Film- und Fotodokumente / Wikimedia Commons

So schlimm es war, die Heimat zu verlassen, desto schlimmer erwies es sich, 1941 nach Leningrad zurückzukehren – da näherte sich schon der Krieg der Stadt. „Am 28. Juni 1941 begann die Evakuierung und dauerte bis Ende August“, erzählt Sinowij. Rüstungsfirmen und Kindergärten wurden als Erste evakuiert, auch Sinowij sollte mit seinem Hort aus der Stadt gebracht werden – doch seine Mutter ließ das nicht zu. Sie hatte gehört, dass die Transporte regelmäßig bombardiert wurden und holte ihren Sohn in letzter Sekunde aus dem Zug.

Sinowij wusste nicht, wie ihm geschah, und verstand noch weniger, was los war, als am 6. September die ersten Bomben auf die Stadt fielen. Die Rote Armee, nur so viel wusste er, galt als „unbesiegbar“ und „unzerstörbar“, jeder, der dieser offiziellen Erzählweise widersprach, galt als „Spitzel“ oder „Panikmacher“. Seine Mutter impfte den Kindern ein, nie, nie vom Krieg zu sprechen.

Und jetzt: Bomben auf Leningrad? Warum schlug die Rote Armee den Feind nicht einfach vernichtend in die Flucht? Sinowij und seine Familie befanden sich inmitten eines Belagerungsrings, den Hitlers Truppen um die Stadt aufgebaut hatten. Nicht, um sie einzunehmen, sondern, um die Bevölkerung systematisch auszuhungern.

Mit Schnelligkeit und Härte traf der Winter ein. Der Frost kam bereits im Oktober.

Die Familie Goldberg suchte unentwegt nach Brennbarem für den Ofen: Bücher, Möbel, Stoffe, alles hätten sie verheizt. Bis eines Tages ihr eigenes Haus, vermutlich getroffen von einer Bombe, brannte. Es war Sinowij, der den Rauch als erster bemerkte und seine Mutter weckte. Mit ein paar Habseligkeiten liefen sie auf die Straße, und kamen bei einem alten Mann unter, der freundlich war, aber Angst hatte, die Goldbergs könnten ihm seinen Kartoffelvorrat stehlen. „In diesem Winter sind wir fast verhungert“, sagt Sinowij. „Es gab täglich 125 Gramm  Brot zum Überleben, aber es war kein richtiges Brot, es war eine undefinierbare, lehmartige Masse, mit Stoff, Erde und anderen Inhaltsstoffen.“ Sinowij, seine Schwester und seine Mutter wurden so schwach, dass sie nicht mehr in den Bunker flüchteten, wenn die Sirenen gingen. Der Hunger lähmte sie, der Lebensgefahr waren sie sich kaum mehr bewusst.

Bewohner Leningrads stehen für Wasser an. Menschen im besetzten Leningrad holen Wasser aus Granattrichtern. Lage: Newsky Prospekt. 1941. Bild: RIA Novosti archive, image #907, http://visualrian.ru/ru/site/gallery/#907 Boris Kudoyarov / Wikimedia Commons: RIA Novosti

Wie konnte die Familie überleben? „Dank unserer Mutter“, sagt Sinowij. Die arbeitete als Putzfrau in einem Milchwarenladen. Wenn Ware kam, erhielt auch sie etwas – Ein Stück Brot, das sie eisern rationierte. Irgendwann fanden die Personalchefs heraus, dass ihr Mann verhaftet worden war und als Staatsfeind galt – obwohl die Familie nie ein Wort darüber verlor. Nun geschah das, was auch Sinowij wohl das Leben rettete: Die Mutter behielt ihre Arbeit.

Weiter regierten dürre Zahlen das Leben der Familie. 250 und 125. 250 Gramm Brot für seine Mutter und seine schon erwachsene Schwester Tina, 125 Gramm Brot für ihn. Brot? „Es bestand aus Sägespänen, Watte, Lumpen und Papier“, erinnert sich Sinowij. „Irgendwann fanden wir Fingernägel in dem Brot.“ Einige Hundert Fälle von Kannibalismus sind während der Leningrad-Blockade dokumentiert. Viele weitere wird es gegeben haben. Was tun? „Wir zerschnitten Ledergürtel und kochten Suppe daraus. Meine Mutter konnte manchmal Brotkrümel vom Boden der Ladentheke aufsammeln. Daraus machte sie abends eine herrliche Suppe – mit den Krümeln und ein bisschen Sirup, den sie auf dem Markt kaufte.“ Während die Bevölkerung verhungerte – im November starben täglich 4000 bis 7000 Menschen an Unterernährung und Kälte – speiste die Parteispitze feudal.“

„Die wertvolleren Lebensmittel sind oft in der Korruption verloren gegangen“, sagt Sinowij. „Der Parteispitze fehlte es an nichts und sie ließ die Menschen hungern.“

Die Aufopferung von  Sinowijs Mutter hatte einen Preis,  mit der Zeit wurde sie immer schwächer, bis sie nicht mehr arbeiten konnte. Ohne die Unterstützung durch seine Mutter ging es auch Sinowij immer schlechter. Jetzt rettete seine Schwester Tina die Familie, indem sie eine Goldmünze – ein Relikt aus der Zeit der Zaren – gegen Essen eintauschte. Sie kaufte Brot und Buletten. „Auch unsere Mutter kam so wieder auf die Beine, ohne das Goldstück hätten wir nicht überlebt.“

Fast täglich ging Sinowij in dieser Zeit zum Fluss Newa, um Wasser zu holen. „Eines Tages sah ich dort einen Mann, der kaum noch laufen konnte, er war sehr dünn und sehr blass. Irgendwann ist er in den Schnee gefallen und nicht wieder aufgestanden. Ich konnte ihm nicht helfen, war auch sehr schwach und ein Kind von acht Jahren.“ In seinen Gedanken ist dieser Moment sehr lebendig geblieben.

Das Feuer von Flugabwehrgeschützen in der Nähe der Isaakskathedrale. Leningrad, 1941 (Bild: "The Eastern Front in Photographs", John Erickson) / Wikimedia Commons

Mit Beginn des Jahres 1942 verbesserte sich die Lage in Leningrad etwas. Die Brotrationen wurden etwas größer, Mehl wurde wieder zum Hauptbestandteil des Brotes, nicht mehr Stoffe, Sägespäne und Fingernägel. „Als meine Mutter irgendwann mit einer Tafel Schokolade zurückkam, dachten wir, wir sind im Paradies.“

Dank Tinas altem Sportlehrer, die bei der Evakuierungskommission arbeitete, konnte die Familie von Sinowij im Juli 1942 über den Ladogasee aus Leningrad fliehen.

Der Ladogasee war im Winter zugefroren, jeder, der fliehen wollte, wurde von der deutschen Wehrmacht beschossen. Im Sommer fuhren Schiffe über den See, die Luftwaffe hatten die Deutschen teilweise abgezogen. „Einige Schiffe wurden immer noch beschossen, aber wir hatten Glück.“  Irgendwann kam die Familie in Tichwin an.

„Ich weiß noch, dass wir dort zum ersten Mal wieder Butter bekamen. Aber wir wurden gewarnt, nicht zu viel zu essen – wir waren abgemagert, und es gab Fälle von Menschen, die nach dem Hunger zu schnell zu viel gegessen hatten und daran gestorben waren.“

Die Geflüchteten aus Leningrad wurden auf kleine Ortschaften in der Nähe aufgeteilt.  Sinowij und seine Familie kamen bei einer Dame unter, die glaubte, Juden hätten Hörner – sie war Antisemitin. Sinowijs Mutter antwortete der Frau: „Ja, wir wurden aus Leningrad evakuiert und wir sind Juden, aber wie du siehst haben wir keine Hörner und du brauchst vor uns keine Angst zu haben.“

Nach dem Krieg zog die Familie nach Kasan und später nach Charikw. 1961 kämpfte Sinowij vor Gericht um die Rehabilitierung seines Vaters, der als Staatsfeind gegolten hatte – und gewann. „Der  Verlust meines Vaters war für mich als Kind noch schlimmer als der Antisemitismus“, sagt er.

In Köln hat Sinowij einen Verein für russischstämmige Ingenieure und Erfinder gegründet und singt im Chor. „Ich bin glücklich mit meinem Leben“, sagt er. „Ich wünsche mir, dass ihr dafür sorgt, dass es nie wieder Krieg gibt.“

 Von Jean-Luc, Kübra, Karim und Hannah