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Biografie von Tamar Dreifuss

Von Michaela Elstner und Aylin Özbucak

Tamar Dreifuss wurde 1938 in Wilna, Litauen geboren. Sie überlebte als Kind das Ghetto von Wilna und wurde von ihrer Mutter aus einem Lager gerettet. Nach dem Krieg emigrierte Tamar Dreifuss nach Israel und später mit ihrem Mann Harry Dreifuss nach Deutschland. Die Autorinnen Michaela Elstner und Aylin Özbucak beschreiben unter anderem, wie Tamar Dreifuss vorübergehend ihren Namen verlor und ihre Mutter sich mit ihr von Versteck zu Versteck durchschlug.

Tamar Dreifuss´ Geschichte beginnt mit dem 5. März 1938. An diesem Tag wird sie in der litau­ischen Stadt Wilna (Vilnius), damals unter polnischer Herrschaft, geboren. Im Jahr 1940 wird Litauen von der Roten Armee annektiert und in die Sowjet­union ein­gegliedert (vgl. „Lit. Geschichte“). Im Zuge der Terror­maßnahmen gegen die polnisch-litauische Zivilbevölkerung müssen Tamars Eltern Jakob und Jetta Schapiro ihre große Wohnung in Wilna räumen. Sie ziehen in eine Zweizimmerwohnung in Ponar, einer wenige Kilometer von der Stadt entfernten Waldsiedlung.

Hier lebt Tamar „wie jedes normale Kind“. Aber ein Jahr später, im Juni 1941, rücken Hitlers Truppen in Wilna ein: „Und dann war meine Kindheit zu Ende“, sagt Tamar Dreifuss. Sie legt eine kurze Pause ein, bevor sie weiter erzählt: Immer wieder hört die Familie Schüsse aus der Ferne. Man nimmt das nicht zu ernst, hält die Schüsse für Übungen. Doch später erfahren sie, dass Menschen erschossen werden. Mit dem Einmarsch der Deutschen beginnt die planmäßige Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Bei systematischen Massenerschießungen sterben in Ponar bis Ende ­Dezember 1941 hunderttausend Menschen durch die Hand der Deutschen und ihrer litauischen Kollaborateure: „ungefähr 70.000 Juden, 20.000 Polen, 10.000 sowjetische Kriegsgefangene sowie eine unbekannte Zahl von Roma und nichtjüdischen Litauern“ („Paneriai”). An diese Verbrechen erinnert heute eine Gedenkstätte.

Das letzte Foto aus der Zeit, in der die Welt noch in Ordnung war: Tamar, damals drei Jahre alt, und ihr Cousin. Samuel Bak wurde als Künstler international erfolgreich. Bild: privat

Aus Sorge vor einer möglichen Deportation geben die Schapiros die kleine Tamar zu einer Tante, die christlich getauft wurde. Sie selbst verstecken sich mit Hilfe der Tante für die nächsten sechs Monate in einem Kloster. Tamar muss sich von ihrem ersten Tag bei der Tante an mit dem christlichen Tarnnamen Teresa Scharwinzki vor­stellen. Für ihre Eltern muss sie die neuen Vornamen Joseph und Jadwiga lernen. Eineinhalb Jahre lang bleibt Tamar im Versteck, ein einsames Kind, begleitet von der Sehnsucht nach den Eltern. Nur ein Hund ist ihr Freund, mit dem sie manchmal spielt. Jedoch freundet sie sich mit dem Untermieter ihrer Tante an, der bei der Gestapo ist. Als sie ihm eines Tages beim Rasieren zusieht, erinnert sich Tamar an ihren Vater, und ihr rutscht die Geschichte mit dem Tarnnamen heraus. Der Deutsche gibt seiner Vermieterin zu verstehen, dass er die jüdische Herkunft des Kindes erkannt hat. Das Versteck ist nun zu gefährlich für Tamar.

Im Ghetto von Wilna

Ihre Eltern leben inzwischen im Ghetto von Wilna. Dort hatten sie hingehen müssen, nachdem das Kloster von den Deutschen beschlagnahmt worden war. Und dort müssen sie im Winter 1942 nun auch Tamar wieder zu sich nehmen. Von nun an lebt Tamar mit tausenden Menschen auf engstem Raum. Das Leben im Ghetto ist bestimmt von schlechten hygienischen Bedingungen, Nahrungsmittelknappheit und fehlender Privatsphäre. Zehn bis 15 Personen hätten in einem Zimmer gewohnt, schildert Tamar Dreifuss.

Die Ghettos wurden zu Durchgangsstationen in die Vernichtungslager. Die Nationalsozialisten benutzten diese Zwangsunterbringung, um Juden unter ihre Kontrolle zu bringen, sie verfügbar zu machen und zu diskriminieren. Juden in den Ghettos mussten Zwangsarbeit leisten und litten unter andauerndem Hunger.

Im Gegensatz zu den Kindern im Ghetto sieht Tamar anfangs noch gut ernährt und froh aus. „Auf einmal sehe ich solche grauen Gesichter“, erinnert sie sich an ihre ersten Eindrücke. Sie wird angeguckt wie ein Wesen von einem anderen Stern.

Ihr Vater arbeitet außerhalb des Ghettos und schmuggelt für seine Tochter immer wieder Eier durch die Kontrollen, obwohl er weiß, dass er dafür erschossen werden kann. Für Tamar Dreifuss ist es ein Liebesbeweis: „Deswegen esse ich heute gerne Eier“, sagt sie lächelnd.

„Ich habe ein Gebetsbüchlein in polnischer Sprache. Dieses Büchlein hat meine Mama im Kloster als Abschiedsgeschenk bekommen. Das Kloster wurde von den Nazis beschlagnahmt und die Nonnen wurden samt dem Pater ins Gefängnis gebracht. Sie und der Pater wurden später in Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt. Dieses Büchlein begleitete meine Mama bis zum Tode. Es war ihr Glücksbringer, obwohl sie eine überzeugte Jüdin war. Vor ihrem Tod hat sie mir es übergeben, mit der Bitte, es gut zu bewahren. Es ist heute als Schutzengel an meiner Seite. So habe ich es immer bei mir. Bei meinen Lesungen zeige ich es und erzähle, warum es wichtig für mich ist.“ Bild: privat

Am 21. Juni 1943 erteilt Heinrich ­Himmler, Reichsführer der SS, den Befehl, die Ghettos im „Reichskommissariat Ostland“ aufzulösen. Die Deutschen wollen die Juden in Konzentrationslager deportieren. Alle Menschen, die nicht arbeitsfähig sind, sollen ermordet werden (vgl. Lempp). Dieser Plan gilt auch für die Juden in Wilna.

Im Ghetto wird Tamar angeguckt wie ein Wesen von einem anderen Stern

Nach den vielen Massenhinrichtungen seit 1941 in Ponar machen sich Tamars Eltern wie die anderen Bewohnerinnen und Bewohner vermutlich keine Illusionen darüber, was ihnen bevorsteht, als das Ghetto am 1. September 1943 umzingelt wird. Tamar und ihre Eltern flüchten sich mit anderen Männern, Frauen und Kindern in einen unterirdischen Bunker, um dort Schutz zu suchen. Die Luft ist knapp, und es ist totenstill. Diese Stille wird aber wenig später unterbrochen, als von draußen der Befehl gebellt wird, dass alle Männer den Bunker verlassen sollen. Da die Drohung im Raum steht, andernfalls den Bunker zu sprengen, verlassen die Männer den Schutzraum. „Das war unser Abschied von meinem Vater“, erinnert sich Tamar Dreifuss. „Er sagte, wir sehen uns bestimmt wieder. Er war immer optimistisch. Dann ist er raus.“ Tamar soll ihn nicht mehr lebend wiedersehen.

Tamars Eltern Jetta und Jakob Schapiro sowie Jakobs Mutter. Bild: privat

Nach dem Krieg erhält sie über eine ehemalige Mitgefangene des Vaters traurige Gewissheit darüber, dass er im Konzentrationslager Stutthof einige Tage vor der Befreiung erschossen wurde. Am Tag seiner Abführung aus dem Ghetto wird den Frauen mitgeteilt, sie könnten sich ihren Männern anschließen. Tamars Mutter Jetta zögert nicht. „Wir sind in Richtung dieser Waggons gegangen, dieser Viehwaggons“, erinnert sich Tamar. Sie gehen mit anderen Müttern, alten Menschen und Kindern. Sie werden wie Sardinen in die Waggons gepfercht. „Ich hatte total Angst. Ich lag auf dem Boden, meine Mutter stand über mir, damit mir keiner was macht. Und da fuhren wir mit dem Zug, tagelang.“ Jetta erkennt jedoch das eigent­liche Vorhaben der Nationalsozialisten. Sie weiß, dass Sinn und Zweck der Massendeportation ihre Ermordung ist.

Die siebenjährige Tamar nach dem Krieg in Łódź. Bild: privat

Sie versucht, aus dem Zug zu fliehen. Der erste Flucht­versuch endet jedoch mit 25 Peitschenschlägen, nach­dem sie erwischt worden ist. Auch der zweite Fluchtversuch scheitert, Jetta wird mit einem Schlag über den Kopf mit einer Schusswaffe bestraft. Sie hört tagelang nichts. Aber der Mut verlässt sie nicht. Die Mutter war „wie ein Felsen“ für die kleine Tamar.

„Meine Mutter sagte:
„Ich werde nicht wie ein Vieh, das zum Schlachthof geführt wird, sterben!“

Nach der Ankunft des Zuges im Durchgangslager ­Tauroggen wird eine Selektion durchgeführt. „Da mussten sich alle aufstellen und da stand einer, ein Nazi, und hat dirigiert – mit dem Stock, rechts, links, rechts, links“, erzählt Tamar. Jetta wird von dem National­sozialist aufgefordert, Tamar zurückzulassen, um selbst auf die Seite derer zu gehen, die noch arbeiten können.

Aber sie lehnt ab: „Nur über meine Leiche.“ Sie wird nach rechts geschickt, „und das bedeutete den Tod“, erklärt Tamar Dreifuss. Hunderte von Menschen sind bei dieser Selektion. Sie werden zum Duschen geführt. Alle müssen sich ausziehen. „Nach dem Duschen sprang meine Mutter auf und suchte zwischen den Kleidern. Sie hat sich ein Kostüm herausgeholt und für mich ein schönes Kleid. Da haben die gedacht, die Frau ist verrückt. Keiner hat so etwas im Sinn gehabt“, erzählt Tamar Dreifuss. Dass Menschen angesichts des Grauens, das sie durchmachten, den Verstand verloren, sei nichts Besonderes gewesen. Die Mutter nimmt Tamar bei der Hand, nimmt den Judenstern ab und sie verlassen das Gebäude. Jetta geht selbstbewusst und aufrecht, nicht wie eine Gefangene. Der Trick funktioniert: „Ich kann mich erinnern, das war voller Soldaten, aber keiner hat uns angehalten“, sagt Tamar Dreifuss. Ihre Mutter sei blond gewesen und habe „ziemlich arisch“ ausgesehen. An dieser Stelle blickt die Erzählerin durch die rassistische Brille der Nationalsozialisten, die über Leben oder Tod entschieden.

Bild links: Tamar im Lager für Displaced Persons in Landsberg. Hier bereitet sich die Familie Schapiro-Rosenzweig auf die Auswanderung nach Israel vor. „Displaced Persons“ meint während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland verschleppte oder geflüchtete ausländische Personen, die sich bei Kriegsende im damaligen deutschen Reichsgebiet aufhielten (vgl. „Displaced Person“). Bild rechts: Tamar im Alter von 15 Jahren in Israel. Hier hat sie wieder Vertrauen zu Menschen gefasst. Bilder: privat

Ein Russe hatte Tamars Mutter einmal gesagt: „Du siehst aus wie eine von uns.“ So war Jetta auf die Idee gekommen, sich durch ihr Aussehen zu retten. Jetta und Tamar gelangen an das Tor des Lagers. Tamar solle sich bekreuzigen, sagt Jetta. Als das Kind dies tut, wie es das bei der christlichen Tante gelernt hat, öffnet sich das Tor. „Wirklich, das ist ein Wunder“, erstaunt Tamar ­Dreifuss sich heute noch über das unverhoffte Glück. Und vielleicht ist es ein bisschen Stolz auf ihren Beitrag zur Rettung, der ihre Stimme dabei in Schwingung bringt. Tamar und ihre Mutter sind endlich befreit.
Von nun an beginnt erneut ein riskantes Leben unter falscher Identität. Jetta bietet bei den umliegenden Höfen an, jegliche Arbeiten zu verrichten, und so ziehen sie von Hof zu Hof. Während die Mutter arbeitet, bleibt die fünfjährige Tamar sich selbst überlassen. Die Tiere der Bauern seien ihre Freunde gewesen, sagt Tamar, da sie wieder einmal oft alleine war.

So kommen sie bis zum Kriegsende lebend durch. Im Jahr 1944 befreit die Rote Armee die Gegend. Jetta gibt sich den Soldaten als Jüdin zu erkennen. Tamar und sie erhalten Reisepapiere und fahren mit dem Zug zurück nach Wilna.

Die Stadt ist zerbombt, aber die Tante ist am Leben. Heute weiß man: Von geschätzten 150.000 jüdischen Litauerinnen und Litauern im Jahr 1939 überlebten nur ungefähr 5.000 Menschen die deutsche Besatzung.

Tamar und ihre Mutter gehen zuerst nach Łódź. Dort lernt Jetta einen Mann kennen, Tamars künftigen Stiefvater. Sie verbringen dann zwei Jahre im Lager für Displaced Persons in Landsberg bei München. Dort besucht Tamar die Schule und lernt Hebräisch, denn die Mutter und ihr Lebensgefährte planen bereits die Auswanderung nach Israel.

„Gerade jetzt, wo wir solche Sachen hören wie den Holocaust habe es gar nicht gegeben, müssen wir uns noch mehr engagieren. Damit Jugendliche nicht tatenlos zuhören, damit sie etwas unternehmen, wenn sie sehen, dass Unrecht geschieht.“

Bild links: Nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin leistet Tamar ihren Wehrdienst bei der israelischen Armee. Das Foto entstand 1958. Durch ihre Heirat wurde sie nach einem Jahr schon aus dem Dienst entlassen. Bild rechts: Hochzeit mit Harry Zwi Dreifuss im Jahr 1959 in Ramat Gan bei Tel Aviv. Bilder: privat
Wieder ins Leben finden

Im Jahr 1948 kommen Tamar, ihre Mutter und ihr Stiefvater dort an. Da habe sie langsam wieder Vertrauen zu Menschen gefasst, erinnert sich Tamar Dreifuss. Sie beklagt sich nicht. Nur auf Nachfrage berichtet sie ausführlicher von den Spuren, die die Verfolgung bei dem Mädchen Tamar hinterlassen hat.

Weil sie selbst keine Kindheit hatte, absolviert sie eine Ausbildung zur Erzieherin

Am Anfang hat sie Angst zu sagen, dass sie Jüdin ist. „Und dann hat man mir klar gemacht, dass ich keine Angst zu haben brauche, alle sind Juden.“
Nach der Schulzeit absolviert Tamar Dreifuss eine zweijährige Ausbildung zur Erzieherin: „Weil ich keine Kindheit hatte, eigentlich. Da habe ich gedacht, ich will mit Kindern zusammen arbeiten.“

Im Jahr 1958 tritt sie den Militärdienst an. Durch die Heirat mit ihrem Jugendfreund Harry Zwi Dreifuss wird sie aber schon nach einem Jahr davon befreit. Noch heute sind Tamar und Harry Zwi Dreifuss ein Paar.
Als Harry 1959 zum Studieren nach Deutschland geht, ist es zunächst unvorstellbar für Tamar, mit ihm mitzugehen. Doch schließlich lässt sie sich dazu über­reden. Sie findet rasch Arbeit als Religionspädagogin bei der Kölner Synagogengemeinde. Es soll nur ein vorüber­gehender Aufenthalt sein, aber: „Schicksal ist, dass ich doch hier geblieben bin, bis heute.“ Vielleicht hat es ja einen höheren Sinn, über­legt Tamar Dreifuss.

Im Jahr 2002 hat sie die Überlebensgeschichte ihrer Mutter aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzt.1 Im Jahr 2009 hat sie selbst, mit Hilfe eines Teams, ein Kinderbuch über ihre Rettung geschrieben.2 Daraus liest die Holocaust-Überlebende häufig in Schulen. Das Erzählen hilft nicht nur ihren jungen Zuhörerinnen und Zuhörern, die Geschichte besser zu verstehen. Tamar selbst bewältigt die Grausamkeiten ihrer Vergangenheit, indem sie anderen davon berichtet. Sie sagt:

„Wilna ist meine erste Heimat, denn da bin ich geboren.
Israel ist meine zweite Heimat,
denn da habe ich meine Jugend verbracht.
Und Deutschland ist meine Aufgabe,
denn hier wohne ich.“

Die Interviews führten Kübra Akmantemiz, Michaela Elstner und Aylin Özbucak.